Präventionsarbeit: Mein Weg, meine Kehrtwende, meine Berufung.
Mit meiner Geburt kam das zusammen, was zusammen gehörte: Die Essstörungen und ich, ich und die Essstörungen, ein unzertrennliches Paar. Erst kam ich, danach meine Essstörung. Wir waren und wir werden für ewig miteinander verbunden sein. Meine Essstörung ist mein siamesischer Zwilling, der meine Zerstörung aufgegeben und dafür die präventive Aufklärungsarbeit übernommen hat.
In meiner Kindheit lief alles schief, was nur irgendwie schieflaufen konnte. Ich gehörte nirgendswo dazu. In der Familie sowie im sozialen Umfeld war ich eine Außenseiterin, die darum kämpfte, geliebt und beachtet zu werden. Den Kampf verlor ich. Wirklich allein war ich dennoch nie. Mein Zwilling nahm mich liebevoll in den Arm, wenn mir das Leben schmerzhaft durch meine Finger rann.
Im Vorschulalter liebte ich das Essen. Meine innere Leere, für die ich keinen Namen hatte, füllte ich mit allem, was irgendwie essbar war. Ich wurde gelegentlich auf Diät gesetzt, denn ich entsprach nicht dem Vorbild meiner grazilen Familie. Das Essen schmeckte mir trotzdem – mehr oder weniger. Bis ich erkannte, dass meine Unförmigkeit Schuld an der Lieblosigkeit war, die mir tagtäglich ins Gesicht schlug. Meine Essstörung verbot mir mit den tollsten Versprechungen das Essen und setzte mich strikt auf Diät. Hungern, Sport und ständiges Wiegen gehörten von da an fest zu meinem Alltag.
Kurz vor der Pubertät zwang mich die Magersucht, die ich sehr gut verstecken konnte, zum Erbrechen. Das Hungern zog heftige Essanfälle nach sich, die ich mit Sport und weiteren brechfreien Gegenmaßnahmen nicht mehr kompensieren konnte. Unbemerkt baute ich mir eine Zukunft ohne familiären Halt, aber dafür mit meiner Essstörung auf. Glücklich war ich nicht, aber die Traurigkeit passte sowieso besser zu mir.
Mit 19 Jahren erreichte ich meinen persönlichen Tiefpunkt und die Essstörung ihren Höhepunkt. Ich wurde immer weniger, meine Essstörung immer mehr. Und nun? Wie sollte es weitergehen? Leben oder Tod? Ich entschied mich fürs Leben. Die Entscheidung fiel mir leicht. Im Gegensatz zu meiner Essstörung ahnte ich nicht, was auf mich zukommen würde. Die bedingungslose Liebe schlug in Hass um. Ich wollte mir meinen Zwilling mithilfe einer Therapie aus dem Herzen schneiden. Doch so einfach war das nicht, wie ich es mir anfangs vorstellte. Ich wollte zwar ohne Essstörung sein, aber ich wollte sie nicht vertreiben. Sie war mein Halt, mein Schutz, meine Sicherheit. Was werde ich ohne sie sein?
Schnell erkannte ich, dass mir die ambulante Therapie nichts brachte. Ich begab mich im April 2002 in stationäre Hände. Einerseits war ich erleichtert, an einem Ort zu sein, wo ich verstanden wurde. Anderseits musste ich mein stets betontes Wollen in ein Handeln umwandeln. Zähneknirschend ließ ich mich darauf ein. Schwer, das Essen und Zunehmen war so verdammt schwer. Es folgte ein weiterer Tiefpunkt. Ich musste die Konsequenzen für meine Lügen ertragen. In diesen Tagen passierte jedoch etwas, was von da an meine Passion werden sollte. Ich hielt mit einer weiteren Patientin meinen allerersten Vortrag über Essstörungen. Der Saal war voll. Ärzte, Therapeuten und Psychosomatik-Patienten sowie Patienten aus der angegliederten Orthopädie versammelten sich, um uns ihr Gehör und ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. Die erstaunten Reaktionen und das positive Feedback hinsichtlich der Ehrlichkeit, waren sensationell. Für meine Seele und für mein Ego.
Seitdem war es mein Wunsch, mit meinen Erfahrungen präventiv tätig zu werden.
Ich erkannte den Nutzen meiner Essstörung für andere. Ich wollte mit klaren Worten aufklären und die Schattenseiten beleuchten, die kein Außenstehender sehen kann. Essstörungen lieben die Heimlichkeit. Mit Offenheit können Vorurteile ab- und Vertrauen aufgebaut werden.
Durch Zufall konnte ich meine Vorträge an Schulen und weiteren Intuitionen ehrenamtlich weiterführen. In mir drin arbeitete aber fortwährend das Verlangen: Ich will mich nachhaltig für Prävention gegen Essstörungen stark machen.
Nach sämtlichen Irrwegen, die mich nicht glücklich machten, setzte ich meinen Traum in die Tat um. Am 1. Januar 2016 gab ich meiner Essstörung ein Gesicht. Seitdem gehe ich als Happy Kalorie an Schulen, um aktive Aufklärungsarbeit zu leisten. Kann ein Lehrbuch voll mit Faktenwissen authentisch von den Tücken einer Essstörung erzählen? Meine Erfahrung bestätigt es – nein. Viel authentischer ist es, wenn ein Betroffener persönlich von seinen Erfahrungen berichtet und seine Lösungswege aufzeigt.
Mein essgestörter Zwilling ist nicht weg. Ich brauche ihn lediglich zu Präventionszwecken. All sein vermeintlich Gutes, was mich nach und nach zerstörte, konnte ich mit wirklich positiven Dingen ersetzen. Aktuell bin ich in meinem 6. Jahr, in dem ich meine Essstörung nicht aktiv auslebe. Und das fühlt sich sensationell an. Ich lebe mein Leben danach und das kann jeder schaffen. Viel besser wäre es natürlich, erst gar nicht in die Fänge einer Essstörung zu geraten. Happy Kalorie kann Essstörungen nicht verhindern, aber mit Authentizität den Blick für ihre Allgegenwärtigkeit schärfen.
Michaela hat bei den #mutmachleuten bereits einen Expertenartikel zum Thema Essstörungen und Präventionsarbeit verfasst.