PTBS, Angst- und Zwangsstörung: Ich mag schöne Menschen – wie sie aussehen ist mir egal.
Betroffene: Jule
Jahrgang: 1990
Diagnosen: Posttraumatische Belastungsstörung, Ängste, Zwänge durch Alkoholismus des Vaters und Co-Abhängigkeit der Mutter
Therapie: Verhaltenstherapie seit 2018
Ressourcen: Meditation, Fahrrad fahren, Freunde, allein sein, Musik, Podcasts
Wie und wann hast du von deiner Erkrankung erfahren?
Ich wusste schon immer, dass etwas in meinem Inneren kaputt ist. Ich habe mich aber erst mit 28 Jahren getraut, mich mit jemandem auszutauschen.
Warum hast du dich entschieden, nun Gesicht zu zeigen?
Weil es (leider) da draußen vielen andere Menschen gibt, denen es nicht gut geht, die schlimme Erfahrungen gemacht haben, die eine traurige Kindheit hatten und die Hilfe brauchen.
Wie hat dein Umfeld reagiert, als es von deiner Krankheit erfahren hat, und welchen Umgang würdest du dir von deinem Umfeld (und der Gesellschaft) in Bezug auf deine Erkrankung wünschen?
Es gibt unterschiedliche Reaktionen. Ich denke, hier kommt es auch auf die Generationen an. Meine Freunde verstehen mich. Sie wissen, dass es mir geholfen hat, Dinge zu verarbeiten und einen neuen Blickwinkel zu entdecken. Bei meiner Oma oder meiner Mutter fiel es beiden anfangs schwer, zu verstehen, warum ich mir Hilfe suche und sie auch brauche. Inzwischen haben sie zwar Verständnis für mich, sehen aber trotzdem nicht (ein), dass auch sie eigentlich Hilfe bräuchten.
Die Gesellschaft wird zum Glück, zumindest ist es meine Erfahrung, offener für psychische Erkrankungen und für das Verständnis, dass es nicht verwerflich ist, sich in seinem Leben professionelle Hilfe zu suchen, wenn man nicht weiter weiß. Ich wünsche mir, dass auch dieses Bewusstsein dafür mehr und mehr wächst in den Köpfen der Gesellschaft. In jeder Generation.
Welche Dinge haben dir am meisten geholfen, die Krankheit zu akzeptieren?
Ich bin noch immer in einem Prozess. Es gibt gute und schlechte Tage. Noch habe ich mich selbst nicht vollständig akzeptiert, aber ich bin auf einem sehr, sehr guten Weg. Sehr geholfen zu allererst hat natürlich der Weg zur Therapie. Das war ein schwerer, aber erster Schritt in die richtige Richtung. Dann hilft es mir jeden Tag mir bewusst zu machen, dass ich ok bin, wie ich bin. Dass ich nicht, wie antrainiert, sein muss, wie die Gesellschaft mich gerne hätte. Ich muss nicht perfekt sein. Ich bin gut so, wie ich bin. Um mir dessen mehr und mehr bewusst zu werden, schreibe ich Dinge auf, mit einem Stift auf einen Zettel, damit das, was in meinem Kopf rumschwirrt, rausgeht. Gedanken sind mein liebster Zeitvertreib (gewesen). Zu viel denken, was sein könnte, statt im Hier und Jetzt zu leben. Außerdem hilft es mir, darüber zu reden. Früher dachte ich immer, ich bin die Einzige, der es so geht. Aber, wenn man darüber redet, stellt man schnell fest, dass es ganz vielen Menschen so geht, dass sie Probleme haben, dass sie schlechte Erfahrungen gesammelt haben, dass sie geprägt und gezeichnet sind von etwas. Die meisten trauen sich aber nicht. Das kann ich absolut verstehen.
Welche Ressourcen nutzt du in Krisensituationen?
Auch da zu allererst meine Therapiestunden. Ich rede darüber. Wenn ich aber alleine zu Hause bin z.B. versuche ich tief durchzuatmen. Mich auf die Atmung zu konzentrieren. Meditiere. Höre Musik. Weine. Das musste ich auch erst lernen mit 28. Weinen ist ok. Weinen tut so gut. Weinen lässt Druck ab. Ich habe früher nie geweint. Weinen bedeutete Schwäche. Schwäche macht angreifbar. Ich musste auf der Hut bleiben. Meine Kindheit war von Unsicherheit geprägt. Da hatte Schwäche keinen Platz. Heute weiß ich: natürlich dachte dies die kleine Jule. Aber weinen ist super. Das weiß ich heute.
Was möchtest du anderen Betroffenen mit auf den Weg geben?
Nehmt euch so viel Zeit, wie ihr braucht, um euch bewusst zu machen: „Ich kann nicht mehr, ich brauche Hilfe.“ Sucht euch Hilfe. Schämt euch nicht. Denkt immer daran: anderen geht es genauso. Ihr seid nicht allein. Euch wird geholfen. Es dauert. Lasst euch Zeit und überfordert euch nicht. Gebt Acht aufeinander. Helft euch.
Was möchtest du anderen Angehörigen mit auf den Weg geben? Wie können sie dir (einerseits) und sich selbst (andererseits) am besten helfen?
Schaut hin. Geht bewusst durch die Welt. Man merkt, wenn jemand Hilfe braucht. Man merkt es. Wenn man nur richtig hinsieht. Seid für die- oder denjenigen da. Auch, wenn sie oder er euch 10x sagt, es gehe gut. Akzeptiert das. Fragt trotzdem immer wieder aufs Neue: Wie geht es dir? Lasst ihnen Zeit, sich zu öffnen. Jeder muss das für sich selbst erkennen dürfen. Seid aber für sie da und bietet Hilfe an.
Was macht deinen Charakter aus und welche Eigenschaft schätzt du an dir am meisten?
Mein Charakter zeichnet sich durch Mut aus, Mut, den ich erst entwickelt habe, denn früher war ich sehr schüchtern und überhaupt nicht mutig. Ich schätze an mir meine Geduld mit anderen. Mit mir bin ich nicht sehr geduldig, aber mit anderen. Außerdem tue ich viel dafür, dass Menschen sich in meiner Nähe wohl fühlen, dass sie einfach sie selbst sein können. Ich höre gerne zu. Bin gerne für andere da und habe sehr viel Verständnis.