Borderline: Das Leben unterstützt dich!

Betroffene: Ute Vahl
Jahrgang: 1970
Diagnosen: Emotional-instabile Persönlichkeit vom Typ Borderline
Therapien: Stationäre Therapie, ambulantes Skills-Training; ambulante Therapie (DBT, kognitive Verhaltenstherapie)
Ressourcen: Sport (Line Dance, Yoga, Wandern, Radfahren), Lesen, Selbstfürsorge, radikale Akzeptanz, Lösungsorientierung, realistischer Optimismus, Eigenverantwortung, Wert- und Bedürfnisorientierung, Balance, reflektierte Erfahrungen, Offenheit für neue Wege, soziales Netz (Zugehörigkeit zu Gruppen, Freunde)

 

Wie und wann hast du von deiner Störung erfahren?

Ich habe ca. 30 Jahre mit der unbehandelten, weil nicht diagnostizierten Störung gelebt. Konflikte, soziale Isolation, Beziehungsabbrüche, innere Leere, eine stetig wachsende Todessehnsucht und tief empfundene Einsamkeit haben mein Erleben und Leben ausgemacht. Magersucht und selbstverletzendes Verhalten waren Begleiterscheinungen. Nach dem Suizid meines Bruders, der Pflege meiner Eltern und deren Tod war ich meines Lebens (meiner Existenz) müde und bereit, meinem emotionalem Leiden (Leben) ein Ende zu setzen. Ich gab mir noch eine Chance und ging in eine Klinik, in der die Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde – der Beginn einer wirksamen Behandlung.

 

Warum hast du dich entschieden, nun Gesicht zu zeigen?

In der Klinik ist mir bewusst geworden, dass ich leidvolle Situationen durch mein destruktives und widersprüchliches Verhalten geschaffen und vielen Menschen in meinem Umfeld sehr wehgetan habe. Bei diesen Menschen habe ich mich entschuldigt. Ich habe das Buch „Das Leben unterstützt dich! Verwurzelt, friedvoll und frei leben mit Borderline“ (Masou-Verlag, 2017) geschrieben, um meine Erfahrungen an andere Betroffene und Angehörige weiterzugeben.

Die für mich wichtigste Erfahrung ist: je selbstverständlicher und (selbst-) ehrlicher ich mit der Diagnose umgehe, desto annehmender und offener reagiert mein Gegenüber. Statt Ablehnung erfuhr ich aufrichtiges Interesse. Es ist für mich wichtig geworden, die Veränderung zu sein, die ich mir von anderen / im Umgang mit anderen wünsche. Und „Gesicht zu zeigen“ bedeutet „die Maske fallen zu lassen“ und zu mir zu stehen: ich bin die, die ich aufgrund meiner besonderen Lebens- und Lerngeschichte geworden bin. Und heute weiß ich, dass ich nicht in Stein gemeißelt bin. Veränderung ist möglich!

 

Wie hat dein Umfeld reagiert, als es von deiner Krankheit erfahren hat, und welchen Umgang würdest du dir von deinem Umfeld in Bezug auf deine Störung wünschen?

Zum Teil mit anfänglichem und ungläubigem Erstaunen („Davon haben wir ja gar nichts gemerkt.“). Zum Teil mit Erleichterung, weil es nun eine Erklärung für gelebtes Extremverhalten und emotionale Extremreaktionen gab – mein Umfeld wirkte entlastet.
Insgesamt hat mein Umfeld positiv und annehmend reagiert, was mir gezeigt hat, dass diese Menschen in mir immer schon mehr gesehen haben, als ich selbst sehen konnte. Mein Umfeld hat es mir leicht gemacht, offen und ehrlich mit meiner Diagnose umzugehen. Meine Offenheit wiederum und meine erkennbare Bereitschaft, mich mit dieser Krankheit auseinanderzusetzen und mich zu verändern, hat es ihnen leicht gemacht, mir mit Interesse zu begegnen und ihre Fragen zu stellen.

 

Welche Dinge haben dir am meisten geholfen, die Krankheit zu akzeptieren?

Der sichere Rahmen, den ich in der Klinik finden konnte: ein wertschätzender, akzeptierender Umgang mit mir als Mensch, der eine psychische Erkrankung hat. Das Erleben wirksamer, therapeutischer Unterstützung sowie die Möglichkeit, neue, verändernde und emotional korrigierende Erfahrungen zu machen. Außerdem hat mir die aktive Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbild geholfen: die Erkrankung und ihre Auswirkungen auf mein bisheriges Leben zu verstehen und zu erkennen, dass es Handlungs- und Veränderungsmöglichkeiten gibt.

 

Welche Ressourcen nutzt du in Krisensituationen?

Radikale Akzeptanz: „Die Situation ist so, wie sie ist. Sie kann nicht anders sein, sonst wäre sie anders.“ Außerdem nutze ich konsequente Skillsanwendung. Bereitschaft zu Eigenverantwortung ist wichtig: Ich bin verantwortlich für mein inneres Spannungsniveau, für meine Gefühle und meine Reaktionen. Zudem nutze ich die Position des Beobachters, in der ich eine innere Distanz zu der Krisensituation herstellen kann. Bestimmte Fertigkeiten sind außerdem hilfreich, wie z.B der Gedankenstopp: „Stopp! Denk!“ oder „Entgegengesetztes Handeln – entgegengesetztes Denken – entgegengesetzte Körperhaltung“.

Mir hilft die Grundannahme, dass jede Krise eine Chance ist und die Bereitschaft, zu lernen. Die Beziehung zwischen meinem „inneren Erwachsenen“ und meinem „inneren Kind“ zu beobachten, ist zudem wichtig in Krisensituationen.

 

Was möchtest du anderen Betroffenen mit auf den Weg geben?

Borderline ist nicht eure wahre Identität. Borderline ist vergleichbar mit einem Rucksack, den ihr tragt. Doch ihr seid nicht der Rucksack, ihr seid die Rucksackträger. Und der Inhalt des Rucksacks ist schwer und sperrig. Ihr könnt lernen, nach und nach den Inhalt eures Rucksacks zu verändern – das schwere Gepäck gegen leichteres Gepäck austauschen.
Borderline ist eine erworbene Erkrankung. Das, was ihr erworben habt, könnt ihr auch wieder abgeben. Borderline ist keine Aussage über euren Wert als Person und Borderline sagt nichts über eure Fähigkeiten und Kompetenzen aus.

Borderline ist auch keine Intelligenzstörung. Eure Intelligenz ist eure wichtigste Ressource: nutzt sie, um euch selbst zu verstehen und um euch anderen Menschen verständlich zu machen.
Jeder hat bisher sein Bestes gegeben und kann sich an jedem neuen Tag entscheiden, es ab jetzt anders, besser zu machen.

Findet eure persönliche Antwort auf die Frage: “Wer bin ich – ohne Borderline?“ – lernt eure Bedürfnisse kennen, respektiert eure Grenzen und erkennt vor allem eure Möglichkeiten.
Setzt die Kraft, die ihr besitzt, FÜR EUCH und eure Zustandsverbesserung, Verbesserung eurer Beziehungen und mehr Lebens- und Beziehungszufriedenheit ein. Beendet den Kampf, den ihr bislang gegen euch und gegen Borderline geführt habt.

Nehmt die Unterstützung in Anspruch, die ihr braucht und sucht euch Hilfe zur Selbsthilfe. Und seid geduldig – vor allem mit euch selbst. Nachhaltige Veränderung zum Positiven braucht Zeit und Übung.

 

Was möchtest du anderen Angehörigen mit auf den Weg geben? Wie können sie dir (einerseits) und sich selbst (andererseits) am besten helfen?

Betroffene brauchen euer Vertrauen, nicht eure Angst oder eure Sorgen. Sie brauchen einen sicheren Rahmen, in dem sie ihre spezifischen Erfahrungen machen können, und diese sind überwiegend leidvoll und schmerzhaft. Betroffene brauchen diese Erfahrungen, um Einsicht und Veränderungsbereitschaft entwickeln zu können. Informiert euch über die Erkrankung und behaltet im Blick, dass nichts gegen euch gerichtet ist. Ihr seid nur Projektionsfläche für die inneren Konflikte und die nicht aushaltbaren Gefühle, die von Betroffenen ausgelagert werden, um die innere Stabilität und Sicherheit aufrechterhalten zu können. Setzt klare und eindeutige Grenzen. Unterstützt den Betroffenen, die erwachsenen Anteile in sich zu stärken. Ermutigt sie, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und erlaubt euch selbst, diese Hilfe für euch in Anspruch zu nehmen.

Lasst euch nicht auf psychologische Spiele, wie „Täter-Opfer-Retter“ ein, lehnt die Spielangebote ab und begegnet dem Betroffenen als Erwachsene. Nehmt sie in die Verantwortung – fordernd, jedoch nicht überfordernd. Und nehmt euch immer wieder Raum und Zeit für euch selbst – für eure Bedürfnisse.

Alles in allem erscheint mir wichtig, dass Angehörige keine Aufmerksamkeit für negatives, also für Problemverhalten schenken und bei akuter Selbst- oder gar Fremdgefährdung angemessene Aufmerksamkeit (Einweisung in eine psychiatrische Klinik oder Inanspruchnahme einer anderen Krisenintervention) walten lassen.
Verschenkt eure Aufmerksamkeit für konstruktives und förderliches Verhalten.

 

Was macht deinen Charakter aus und welche Eigenschaft schätzt du an dir am meisten?

Meine Verbindlichkeit, ich stehe zu meinem Wort und bin absolut verlässlich. Kritik- und Konfliktfähigkeit durfte ich erlernen und meine Hochsensitivität gepaart mit Abgrenzungsfähigkeit ist eine weitere Eigenschaft, die ich mittlerweile an mir schätzen kann. Weitere Eigenschaften, die ich sehr an mir schätze: Hilfsbereitschaft, Wortgewandtheit, analytisches und abstraktes Denken, intuitive Wahrnehmung („Bauchgefühl“), Freude an Bewegung, Kontaktfreude, die Fähigkeit, Verbundenheit in Freiheit zu leben, Kritikfähigkeit, sicheres Gespür für Balance in zwischenmenschlichen Beziehungen, Teamplaying, Unterstützbarkeit, Loslassen können, mein Vertrauen in dieses Leben und in die tiefe und gute Sinnhaftigkeit von allem, was war, was ist und was werden wird: eine lebensbejahende Grundhaltung!

Lernt Ute näher kennen auf Facebook: Der erste Schritt von und mit Ute Vahl.