5 Minuten Mut

Wenn ich zurückdenke, was mir in den schweren Zeiten half, um den Tag oder die Woche auszuhalten oder zu überstehen, dann fallen mir immer wieder kleine Geschichten ein, manchmal ist es nur ein Bild.

Es sind die kleinen Dinge, die mir geholfen haben und die ich lernte, wahrzunehmen. Mutmachbilder.

Es sind Begegnungen mit Menschen, die sich Zeit für mich nahmen oder immer noch nehmen. Mutmachleute.

 

Ein Freund, der mir zuhört und mich nimmt, wie ich bin; der meine übernächtigten Nachrichten – oft wirr und konfus – humorvoll kommentiert und der meine Macken aushalten kann.
Meine Schwester, die mich fragt, wie es mir wirklich geht, wenn ich „drüber“ bin und mich im Arm hält bis ich weinen kann.
Die Verkäuferin, die mich freundlich begrüßt und sich erinnert, dass ich ja gestern meinen Regenschirm vergessen hatte.
Ein Kind, das mich im Vorbeigehen anstrahlt, obwohl ich gerade gehetzt und mit finsterem Gesicht die Straße passiere.
Meine Kolleg*innen, die meine schlechte Laune aushalten und mir heimlich, still und leise einen heißen Kaffee auf den Schreibtisch stellen.
Meine Zahnärztin, die schelmisch grinst sobald sie mich sieht, weil sie weiß, wie ich gleich fluchen werde.
Meine Nachbarin, die klingelt und fragt, wie es mir geht, sie hat mich ja nun schon eine Weile nicht mehr gesehen.
Und nicht zu vergessen mein Mann, der mir den Mist des Alltags abnimmt, wenn ich grad einfach nicht kann und sagt: „Ich kümmer mich drum.“

Ich stelle immer wieder verwundert fest, wie freundlich Menschen mir begegnen können (natürlich nicht immer und überall) und was ein Lächeln, eine Umarmung, ein ernsthaft gut gemeintes Wort mit mir macht. Was es bedeutet, wenn man mir Mut zuspricht. Wenn man sich fünf Minuten für mich Zeit nimmt.

Und ich? Was tue ich für andere?

Ich bin oft gehetzt und gestresst, ich jage Terminen hinterher und vergesse meine privaten Verabredungen. Hier versetze ich eine Freundin, und rufe dort nicht zurück, weil ich es vergessen habe, ich antworte oft erst Tage später auf eine SMS oder Email. Das Arbeitsleben und das private Leben miteinander zu vereinbaren, mit meiner bipolaren Erkrankung kombiniert, erfordert ein hohes Maß an Disziplin, aber es fordert mich auch dazu auf, anderen empathisch und aufmerksam zu begegnen – und ihnen Mut zu machen.
 
In unserer Straße wohnt eine ältere Dame, die jeden Tag mit ihrem Rollwägelchen in die Stadt geht, um ihren vier Wänden zu entkommen. Sie spricht jeden an, der ihren Weg kreuzt, und oft genug versuche ich ihr gerade morgens aus dem Weg zu gehen, um nicht in ein ellenlanges Gespräch verwickelt zu werden. Bis ich nach einer Weile verstanden habe: sie ist einsam, sie sucht das Gespräch, einen kurzen Moment mit Menschen. Sie lebt alleine und hat niemanden, der auf sie wartet. Also nehme ich mir nun die Zeit, mit ihr ein wenig zu plaudern, wenn ich ihr begegne und sehe ein Lächeln, ein echtes, wenn wir uns verabschieden. Vielleicht habe ich ihr dann ein bisschen Mut gemacht.

Vor vielen Jahren habe ich in einer der düstereren Kneipen Frankfurts mit einem Obdachlosen durchgefeiert, dass es krachte. Er saß an der Bar, niemand, der sich mit ihm unterhielt. Wir haben die Nacht durchgeredet und getanzt. Wie sich herausstellte, war er Philosoph, aber er hatte den Anschluss verpasst – und war auf der Straße gelandet. Die Rechnung teilten wir uns brüderlich, das ließ er sich nicht nehmen. Es war schon Sonnenaufgang, als wir uns verabschiedeten als er mir sagte, so einen schönen Abend schon lange nicht mehr verbracht zu haben. Ich vermute: weil endlich jemand ihm zugehört, ihn wahrgenommen hat. Ich habe ihn danach nie wieder gesehen, aber ich war frohen Mutes, dass bis auf den Kater am Morgen er ein wenig Mut schöpfte, dass es Menschen gibt, die ihn sehen.

Vor einigen Jahren traf ich eine ehemalige enge Freundin aus den wilden, alten Zeiten. Diese Frau habe ich sehr geliebt. Aber ich hatte damals einen fürchterlichen Fehler gemacht, den ich nicht aufhören werde zu bereuen. Unser Kontakt brach ab, und so begegneten wir uns nach über 20 Jahren. Und dann stand sie plötzlich vor mir: „Hallo Tina.“ Wir haben tagelang geredet, es war wie gestern. Wir hatten so viel nachzuholen. Wir hörten einander zu. In der Nacht, bevor sie abreiste, weinte ich. Wir wussten, wir würden uns nicht schreiben oder telefonieren. Aber ich schöpfte den Mut, den sie mir gab, weil sie mir verziehen zu hat, und ich gab ihr den Mut zu vertrauen, dass Menschen sich ändern können; dass ich meine Fehler bereut habe und nie wieder diese Dinge tun würde.

Mal waren es fünf Minuten, manchmal war es eine Nacht, mal waren es Tage und Nächte. Immer aber sind diese fünf Minuten mit einem Menschen es wert, sich die Zeit zu nehmen und da zu sein: Hier bin ich. Ich sehe Dich. Wir sind jetzt.

 

Ich finde, wir sollten uns wieder mehr füreinander Zeit nehmen obwohl wir so in Eile sind, obwohl wir doch alles mit dem Handy machen könnten, obwohl wir jetzt eigentlich gar keine Zeit haben:

 

Für eine Tasse Kaffee mit einem Freund, der Rat sucht.
Für den Nachbarn, um die Getränkekisten in den zweiten Stock zu tragen und sein Angebot annehmen, kurz hereinzukommen.
Für ein Gespräch mit der alten Dame auf der Straße.
Für den traurigen, müden Verkäufer, der sich über ein freundliches Wort freut.
Für einen Rat für einen Kollegen in einer Krise.
Für ein gutes Wort für eine Freundin in Not.
Für ein Schweigen mit jemandem, wenn alles gesagt ist.

 

Es sind manchmal nur fünf Minuten, die Mut machen und die unser Leben so bereichern können.
Sie kosten uns nichts und sind für andere unbezahlbar.
Diese fünf Minuten sind es, die uns reich machen.

 

Text: Tina Meffert
Foto: unsplash.com