Essstoerung, Mutmachleute

Essstörungen: Es geht nicht nur ums Essen – es geht um noch viel mehr …

Name: Shirley Hartlage
Beruf: Dipl.-Sozialpädagogin, systemische Therapeutin
Jahrgang: 1972
Klienten: Essstörungen
Therapieangebote/Hilfsangebote: Beratung für Betroffene, Angehörige, Fachkräfte, Gruppen, Fortbildungen; ferner Öffentlichkeitsarbeit im Waage e.V. Fachzentrum für Essstörungen

 

Wie definiert ein Experte die Störung? Welche Kriterien müssen für eine Diagnose vorliegen und was sind die typischen Symptome?

Eine Essstörung ist eine psychosomatische Erkrankung mit Suchtcharakter. Es gibt die im ICD 11 klassifizierten Essstörungen wie die Anorexia Nervosa, Bulimia Nervosa, Binge Eating Disorder und die nicht näher bezeichneten Essstörungen. Die meisten Betroffenen leiden unter einer Mischform, die nicht unter eine dieser Formen fallen. Die Erkrankten brauchen professionelle Hilfe.

Allen Störungen gemeinsam ist, dass die Menschen ein zwanghaftes Essverhalten und gestörtes Verhältnis zum Essen haben. Ständige quälende Gedanken an Essen und das eigene Gewicht belasten massiv den Alltag und soziale Beziehungen. Die Betroffenen haben keinen gesunden Zugang zu ihren Gefühlen, Bedürfnissen und können ihre eigenen Grenzen nicht mehr wahrnehmen und einschätzen. Die Erkrankung ist ein hilfloser Lösungsversuch für seelische Belastungen, Ängste und schmerzhafte Erfahrungen. Weitere Begleiterkrankungen, die das Leben ebenso oder noch mehr erschweren (Sportsucht, Kaufsucht, Alkohol und Drogenmissbrauch, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Angst und Zwangsstörungen) erschweren den Genesungsweg ebenso für die Betroffenen wie für die Angehörigen.

 

Welche Vorurteile bzw. welche falschen Vorstellungen gibt es in der Gesellschaft zu der Störung?

Es ist immer noch ein Tabu, in einem gestörten Verhältnis zum Thema Essen zu stehen. Essstörungen werden allzu oft am Gewicht und Alter festgemacht. Aber sie betreffen eben nicht nur junge Mädchen; es können ebenso jugendliche oder erwachsene Männer, Kinder und Menschen in hohem Alter erkrankt sein. Viele glauben, eine Essstörung habe etwas mit „Dünnsein“ zu tun. Dieser Schein trügt aber auch nicht selten: Menschen mit Essstörungen können auch normalgewichtig sein. Die Störung ist nicht unbedingt von außen sichtbar – und die Gründe liegen nicht nur im Wunsch, anders aussehen zu wollen. Das Thema Übergewicht wird allzu oft mit mangelnder Disziplin verwechselt und es wird nicht erkannt, wie sehr bereits Jugendliche darunter leiden und wie sehr sie unter dem Druck stehen, perfekt sein zu müssen. Die Betroffenen verheimlichen ihre Erkrankung meistens, weil sie große Schamgefühle haben und Stigmatisierung fürchten. Das macht einsam und verstärkt die Erkrankung.

 

Was sind die klassischen bzw. hilfreichsten Therapiemöglichkeiten?

Es gibt einige Möglichkeiten: In kostenfreien Beratungsgesprächen kann schon vor der Therapie vieles sortiert werden und auch nach einem Klinikaufenthalt hört eine Essstörung nicht gleich auf, sondern es braucht weitere therapeutische Begleitung. Gesprächs- und Ernährungstherapien, Körper-und Kreative Therapien helfen sehr, neue Möglichkeiten der Kompensation zu finden und mit belastenden Themen einen neuen, konstruktiveren Umgang zu finden.

Es braucht ein Netz von medizinischer Begleitung, Therapie und manchmal auch Kontakte zu anderen Betroffenen, um weiter dran zu bleiben, weil es immer wieder neue Herausforderungen gibt, bei dem sich das „Symptom Sucht“ hätte lieber Essstörung als Sucht (weil nicht klar als Sucht definiert)manchmal wieder „anbieten“ will.

 

In wie weit ist eine Heilung, ein lebenswertes/erfülltes Leben mit der Störung möglich?

Wichtig ist: Je früher Menschen sich Hilfe suchen und sich die Erkrankung eingestehen, desto günstiger ist das für den Heilungsverlauf.

Das gilt auch für Angehörige oder Fachkräfte, die ebenfalls ein Wissen und einen guten Umgang damit finden können. Das ist dann wiederrum sehr positiv für die Betroffenen selbst. Ein Leben ohne die Erkrankung ist möglich, wenn die persönlichen Gründe für das gestörte Essverhalten bewusst gemacht und gesunde Strategien gefunden und geübt werden. Viele beschreiben, dass sie wieder neu lernen müssen, welche Bereiche und Fähigkeiten sie „beleben“ möchten, was in ihrem Alltag Platz haben soll und wie sie sich ein stabiles Selbstwertgefühl wieder aufbauen können. Wenn es ihnen besser geht, berichten sie von einem neuen Lebensgefühl, welches sie mit der Erkrankung nicht für möglich gehalten hätten.

 

Welche besonderen Fähigkeiten haben Betroffene?

Es gibt eine sehr große Anzahl von Fähigkeiten, die – in guter Balance – auch sehr positiv sind. Menschen mit einer Essstörung können sehr feinfühlig sein. Oft merken sie schnell, wenn es jemandem nicht gut geht oder die Stimmung sich verändert. Sie haben gelernt, andere Menschen im Blick zu haben und sind häufig Menschen, die viele Fragen an das Leben haben. Ihre Tiefsinnigkeit und ihre Kreativität finde ich in den Begegnungen immer wieder beeindruckend.

 

Frau Dipl.-Sozialpädagogin Shirley Hartlage arbeitet und berät bei Waage e.V.