Ein schmaler Grat. Psychische Krankheiten können jeden betreffen.
Nur eine Minderheit der Menschen bleibt ein Leben lang psychisch gesund.
Die meisten Menschen erleben Krisen und auch Schicksalsschläge im Laufe ihres Lebens. Viele erleben Traumata oder Katastrophen wie Krieg, Flucht und Verfolgung. Ein jeder geht damit individuell um. Und so gerät fast jeder von uns mindestens einmal im Leben auf einen schmalen Grat. Ob wir ihn meistern oder nicht, ob wir abstürzen oder uns entlanghangeln und am Ende reicher sind um Erfahrungen, persönliche Stärke und Gesundung, hängt von sehr vielen Faktoren und Umständen ab.
Diskutiert und erforscht werden hier Faktoren wie Resilienz (Widerstandsfähigkeit) und Vulnerabilität (Verletzlichkeit oder Anfälligkeit); genetische Vorbelastungen (physischer und psychischer Natur) und nicht zuletzt soziale, demografische und andere Umweltfaktoren. Außerdem werden bei der Frage, wie wir mit Schicksalsschlägen umgehen, Faktoren des persönlichen, sowie des beruflichen Umfelds betrachtet. Die Bewältigungsstrategien sind so vielfältig wie die Menschen selbst und abhängig von der individuellen Lebens- und Lerngeschichte der einzelnen Person.
Der Grat ist schmal.
Stellt euch vor, wie es für euch war, als ihr das letzte Mal todtraurig ward. Alles schien hoffnungslos und eine Lösung war nicht in Sicht. Irgendwann ließ die Traurigkeit wieder nach. Und jetzt stellt euch vor: Dieser Zustand hört nicht auf. Er bleibt, Tag für Tag. Und wird vielleicht immer schlimmer.
Erinnert euch, als ihr das letzte Mal begründete oder unbegründete Angst oder Panik hattet. Die Angst ist irgendwann wieder verschwunden. Aber jetzt stellt euch vor: Diese Angst kommt immer wieder, immer öfter, und sie bleibt. Vielleicht wird sie immer schlimmer und stärker.
Erinnert euch, als ihr das letzte Mal vielleicht ein Selbstgespräch geführt habt. Als ihr etwas abgelegt und nicht wiedergefunden habt. Oder wie ihr euch an eine eintönige Autobahnfahrt im Nachhinein gar nicht mehr richtig erinnern konntet. Und jetzt stellt euch vor: Das ist jeden Tag so.
Dieser Grat kann manchmal so schmal sein, dass man kaum noch unterscheiden kann zwischen Kategorien wie „normal“ und „abnorm“, zwischen „noch gesund“ und „bereits pathologisch“. Krisen können länger andauern, sich in psychischen Störungsbildern manifestieren oder auch in einer Chronifizierung der Erkrankung. Bei manchen Menschen war die Krankheit schon immer da, bei anderen treffen Umstände und Auslöser zusammen.
Wäre es nicht an der Zeit, die Augen zu öffnen – jeder in seinem Umfeld – und sich dem Menschen, den es betrifft, zu öffnen? Zu sagen: „Erzähl mir von dir. Ich möchte dich verstehen. Ich möchte wissen, was ich tun kann. Ich möchte von dir lernen. Hier ist meine Hand.“ Dann wird der Grat für den Betroffenen vielleicht weniger schmal. Und auch jener, auf den man selbst jederzeit geraten kann.
Denn: Niemand ist gefeit vor physischen und auch nicht vor psychischen Erkrankungen. Niemand.
Psychische Erkrankungen machen keinen Halt vor dem Geschlecht, vor Macht, Geld und Status, vor gesellschaftlichen Schichten, Glaube oder Herkunft.
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Text: Tina Meffert
Foto: Pexels