Magersucht: Du warst und bist immer wertvoll, genau so, wie du bist.

 Betroffene: Regina

Jahrgang: 1998

Diagnose: Anorexia Nervosa (Magersucht)

Therapien: mehrere stationäre Aufenthalte, Verhaltenstherapie, Schematherapie

Ressourcen: meine Familie, Musik & Singen, Yoga 

 

Wie und wann hast du von deiner Erkrankung erfahren? 

Zum ersten Mal darauf angesprochen wurde ich von meiner Hausärztin 2015, da war ich 16. Sie sagte damals zu mir, wenn ich ein Problem mit dem Essen habe, könne ich das jederzeit sagen und darüber sprechen. Ich habe mit Unverständnis und Ablehnung reagiert. Dass ich mal ein problematisches Essverhalten entwickeln könnte, sprengte meine Vorstellungskraft. Ich hatte mir mein ganzes Leben lang nie Gedanken darüber gemacht, was und wie viel ich esse oder wie viel ich wiege. Ich habe nicht gesehen, dass mein Essverhalten zum damaligen Zeitpunkt bereits problematisch und gefährlich für mich war. Dass ich eine Essstörung und damit eine schwerwiegende Erkrankung habe, habe ich erst ein paar Monate später realisiert, während meines ersten stationären Aufenthalts in einer Klinik. Ich habe Zeit gebraucht, um zu begreifen, dass ich tatsächlich eine Erkrankung habe, die meine Wahrnehmung verzerrt und meine Gedanken und mein Handeln negativ beeinflusst. 

 

Warum hast du dich entschieden, nun Gesicht zu zeigen? 

Ich erlebe, dass gerade wenn es um Essstörungen geht, noch so viele Vorurteile in der Gesellschaft existieren. Ich kann mich hier aus eigener Erfahrung nur auf die Anorexie als eine von mehreren Essstörungen beziehen. Bei Anorexie ist die Folge des oft sehr restriktiven Essverhaltens eine starke Gewichtsabnahme. Ich glaube, viele Menschen sind verunsichert, wenn sie eine Person kennen oder sehen, die nichts oder offensichtlich zu wenig isst und immer dünner wird. Sie sehen das, was die Krankheit aus der Person macht und das schreckt viele ab. Ich habe erlebt, dass Freunde sich von mir abgewendet haben, dass fremde Menschen auf der Straße mich mit Ekel und Abscheu im Blick angestarrt haben. Ich wünsche mir, dass Essstörungen als ernst zu nehmende Erkrankungen gesehen werden, als dysfunktionaler Bewältigungsversuch der zu Grunde liegenden Themen und Probleme. All die Verhaltensweisen, die Menschen mit Essstörungen zeigen und die verständlicherweise für Angehörige, Freunde, Bekannte, fremde Personen nicht nachvollziehbar und anstrengend sein können, sind Teil der Erkrankung, die sich niemand aussucht.

Ich wünsche mir, dass mehr Austausch und Begegnung zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen stattfindet. Ich wünsche mir, dass nicht nur die Krankheit gesehen wird oder das, was sie aus einem Menschen macht, sondern der Mensch dahinter mit seiner Geschichte und seinem individuellen Sein. Deshalb zeige ich Gesicht. 

 

Wie hat dein Umfeld reagiert, als es von deiner Krankheit erfahren hat, und welchen Umgang würdest du dir von deinem Umfeld (und der Gesellschaft) in Bezug auf deine Erkrankung wünschen? 

Bei meiner Familie, also meinen Eltern und meiner Schwester, hat meine Erkrankung zunächst Unverständnis, aber auch große Besorgnis und Angst ausgelöst. Unverständnis, weil es schwer für sie war, zu begreifen, warum ich scheinbar aus heiterem Himmel „immer weniger wurde“. Besorgnis und Angst, weil sie nicht wussten, was sie tun, wie sie mir helfen sollten. Weil die Krankheit mich immer weiter von ihnen entfernt hat, sodass ich irgendwann unerreichbar für sie war. Und sie für mich. Für meine Eltern war so belastend, dass sie das Gefühl hatten, die Verantwortung für mich nicht mehr tragen zu können, ohne daran selbst kaputt zu gehen. Das Gefühl, dass ich ihnen entglitten war.

Viele meiner Freunde waren auch sehr besorgt, vor allem aber verunsichert, wie sie mit mir umgehen sollten. Viele Freunde von früher haben sich von mir distanziert und der Kontakt ist abgebrochen, was auch den vielen stationären Aufenthalten geschuldet ist. Ich habe meinen Frieden damit geschlossen. Menschen haben sich nicht abgewandt, weil sie mich persönlich ablehnten, sondern weil sie mit der Krankheit überfordert waren.

Wenn ich heute, als nicht mehr akut Betroffene, jemandem von meiner Erkrankung erzähle, reagieren die meisten Menschen wertschätzend und interessiert. Meine Angst war immer, dass Menschen mich für oberflächlich halten, wenn sie von meiner Krankheit erfahren, dass sie denken, mir sei nur mein Aussehen wichtig.

Ich wünsche mir, dass Menschen bewusst ist, dass das restriktive Essverhalten, das zwanghafte Sporttreiben, das Abnehmen ein Versuch ist, mit tiefer liegenden Problemen, die bei jeder Person unterschiedlich sind, umzugehen.

 

Was hat dir am meisten geholfen, die Krankheit zu akzeptieren? 

Ich habe erkannt, dass die Krankheit nichts ist, was mich zu einem schlechten Menschen macht, dass sie mir nicht meinen Wert nimmt. Sie ist mir passiert, hat mich dazu gebracht, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen. Der Prozess, die Erkrankung zu akzeptieren und zu lernen, mit ihr umzugehen, war lang und schwer und ich war oft kurz davor aufzugeben, weil die Erkrankung mir so übermächtig und ich selbst ihr hilflos ausgeliefert erschien. Viele Therapeutinnen haben mir auf unterschiedliche Art und Weise in diesem Prozess geholfen. Und sie helfen mir immer noch, weil ich ihre Stimmen, das was sie mir gesagt haben, das Gefühl, das sie mir gegeben haben, verinnerlicht habe und manchmal innere Dialoge mit ihnen führe. Meine Familie hat mir geholfen, die mich bedingungslos liebt und niemals von meiner Seite gewichen ist, egal wie sehr die Krankheit uns voneinander entfernt hat. Und ich selbst habe mir vielleicht am allermeisten geholfen, indem ich mir erlaubt habe, mit meiner Erkrankung Frieden zu schließen und hinzuschauen und zu hören, worauf sie mich eigentlich aufmerksam machen wollte. 

 

Welche Ressourcen nutzt du in Krisensituationen? 

Ich arbeite ganz viel mit meinen Gedanken. Denn die Erkrankung findet ja erst mal im Kopf statt, das Verhalten ist dann eine Reaktion auf meine Gedanken. Wenn ich merke, ich denke sehr negativ über mich, ich bin gestresst, es ist etwas passiert, das mich überfordert und belastet und die Versuchung, mir durch restriktives Essverhalten kurzfristig Erleichterung und ein Gefühl von Kontrolle zu verschaffen, ist groß, rufe ich mir in Erinnerung, wohin mich dieses Verhalten geführt hat. In totale Abhängigkeit, körperliche und psychische Schwäche, Isolation. Ich mache mir bewusst, dass alles, was ich aus dem Impuls der Erkrankung heraus tun würde, mich nur noch mehr in eine Abwärtsspirale treiben würde. Stattdessen gehe ich raus, mache einen Spaziergang, spreche mit Menschen, bei denen ich mich verstanden und sicher fühle, mache Yoga, höre Musik und singe. 

 

Was möchtest du anderen Betroffenen mit auf den Weg geben? 

Ich weiß, wie schwer es ist, ehrlich zu sich selbst zu sein, sich einzugestehen, dass man in einen Gedanken-, Gefühls- und Verhaltenskreislauf geraten ist, der einem nicht gut tut. Vielleicht spürst oder weißt du, dass du eine Essstörung hast, glaubst aber, sowieso nicht gegen sie anzukommen. Vielleicht hast du schon öfter die Erfahrung gemacht, doch wieder in ungesunde Verhaltensmuster zu fallen. Vielleicht fühlst du dich hilf- und hoffnungslos angesichts der überwältigenden selbstabwertenden Gedanken, die dich in ungesunden Verhaltensmustern gefangen halten. Vielleicht hast du Schuldgefühle gegenüber deinen Angehörigen und Freunden, weil du spürst, wie viele Sorgen sie sich machen und wie verzweifelt sie dir helfen wollen. Vielleicht fühlst du dich allein und isoliert, wünschst dir Hilfe, aber hast nicht die Kraft oder den Mut, sie dir zu suchen. Oder du hast es schon öfter versucht, aber die Steine im Weg zur Hilfe waren zu groß.

Egal, an welchem Punkt auf deinem Weg mit der Erkrankung du gerade bist: Ich sehe dich, du bist mit allem, was dich beschäftigt und belastet, nicht allein. Du bist wertvoll, mit und ohne Erkrankung, egal wie du aussiehst oder welches Gewicht du hast. Du darfst Raum einnehmen. Und es gibt ein Licht am Ende des Tunnels, auch wenn du es gerade noch nicht sehen kannst oder es dir unerreichbar erscheint.

Der Genesungsweg ist lang, er sieht bei jedem Menschen anders aus und ist nicht linear. Jeder Schritt gegen die ungesunden Gedanken und Verhaltensweisen, und mag er sich auch noch so klein und unbedeutend anfühlen, ist ein wichtiger und bedeutsamer Schritt. Oft fühlt es sich erst mal falsch an, entgegen der gewohnten, aber ungesunden Verhaltensmuster zu handeln. Trau dich, durch die Angst, durch dieses unangenehme, kaum aushaltbare Gefühl zu gehen und es auszuhalten. Es wird besser. 

 

Was möchtest du Angehörigen mit auf den Weg geben? Wie können sie dir und sich selbst am besten helfen? 

Ich sehe euch mit euren Sorgen und Ängsten, den vielen Fragen in euren Köpfen, der schweren Last, eurer Tochter, eurem Sohn, eurem Bruder, eurer Schwester, eurer Freundin, eurem Freund, helfen zu wollen, aber nicht zu wissen, wie. Ich sehe eure Wut über die Erkrankung und was sie aus eurem geliebten Menschen macht. Auch ihr seid damit nicht allein. Auch ihr dürft euch Hilfe suchen.

Wünsche, die ich als Betroffene an euch Angehörige und Freunde formulieren möchte: Ich wünsche mir, dass ihr im Rahmen eurer Möglichkeiten für mich da seid, auch wenn ich euch vielleicht gerade nicht zeigen kann, wie wichtig ihr mir seid. Ich wünsche mir, dass ihr die Person – mich – hinter meiner Erkrankung seht, auch wenn das schwer ist. Ich wünsche mir, dass ihr wisst, dass ich all das was ich aufgrund meiner Erkrankung tue, nicht mit Absicht mache, um euch das Leben schwer zu machen. Gebt mir Zeit. Sprecht mit mir über eure Sorgen und Ängste und über mögliche Hilfe, die ich in Anspruch nehmen kann, aber versucht bitte, nicht vorwurfsvoll zu sein oder mich unter Druck zu setzen. Sprecht mit mir auch über andere Dinge als die Krankheit, Essen und Gewicht. Versucht nicht, mich zu kontrollieren oder mir vorzuschreiben, wie mein Genesungsweg aussehen soll. Ich weiß, es ist schwer, Geduld zu haben und keinen Druck auszuüben, wenn man doch als Angehörige*r oder Freund*in sieht, wie der geliebte Mensch so offensichtlich in die falsche Richtung rennt und sich selbst zerstört. Aber am Ende muss jede*r Betroffene den Genesungsweg selbst gehen – vorausgesetzt sein oder ihr Zustand ist nicht so lebensbedrohlich, dass sofortige ärztliche Behandlung notwendig ist.

Ihr Angehörige und Freunde: Passt auch auf euch selbst auf. Schaut, dass ihr nicht selbst unter all der Last, die ihr zu tragen habt, zerbrecht. Opfert euch nicht komplett auf in dem Versuch, euren geliebten erkrankten Menschen zu retten. Auch ihr dürft euch Hilfe suchen. 

 

Was macht deinen Charakter aus und welche Eigenschaft schätzt du an dir am meisten? 

Ich würde mich als ruhige, empathische und eher introvertierte Person beschreiben. Ich spüre sehr schnell, wie es anderen Menschen geht, ich interessiere mich für sie und ihre individuelle Geschichte und bin gerne bereit, ihnen bei Problemen und in schwierigen Situationen im Rahmen meiner Möglichkeiten zu helfen. Ich mag, dass ich sehr gut und gerne mit mir allein sein und in dieser Zeit so viele Dinge für mich tun kann, die mir neue Energie geben. Ich lerne gerade, meine ruhige und vorsichtige Art zu schätzen und mir gleichzeitig zu erlauben, Raum einzunehmen und das, was ich zu sagen habe, auszusprechen. Ich schätze an mir, dass ich so aufmerksam bin, dass ich kreativ sein kann, wenn ich es mir erlaube. Ich schätze meinen Sinn für Gerechtigkeit und meine Motivation, Menschen dabei zu unterstützen, ihr Leben aus eigener Kraft bewältigen zu können.