Depressionen, Zwangsstörung, Phobie: Die Erkrankung als Chance begreifen.

Betroffene: Anna

Jahrgang: 1996

Diagnosen: anhaltende affektive Störung, Dysthymia, chronisch mit rezidivierenden mittelgradigen depressiven Episoden, Zwangsstörung, somatoforme autonome Funktionsstörung, spezifische (isolierte) Phobie, weitere zurzeit in Abklärung

Therapien: ambulante tiefenpsychologische Psychotherapie, ambulante psychiatrische Therapie (inkl. Medikation)

Ressourcen: ehrenamtliches Engagement mit tollen Menschen

 

 

Wie und wann habe ich von meiner Erkrankung erfahren? Wie lebe ich damit? Von den ersten Anzeichen bis zum Entschluss, öffentlich über mein Leben als psychisch erkrankter Mensch zu sprechen:

Im Wesentlichen gibt es zwei Problemfelder, ein akutes und eines, das mich schon begleitet, seitdem ich denken kann. Beide verlaufen in Phasen, deren Parallelität ebenso in sinnigem Einklang wie in paradoxem Nebeneinander erfolgen kann.

Schon in meiner Kindheit und Jugend hatte ich das beständige Gefühl, anders zu sein. Bis ins frühe Erwachsenenalter quälte mich das Gefühl, dass mir von den Leuten um mich herum wesentliche Informationen über mich und meinen Gesundheitszustand vorenthalten würden. Gedanken wie „Ich bin behindert* und alle wissen es, aber keiner sagt es mir.“ hatte ich beinahe täglich. Mit Mitte zwanzig wandelte sich das zu der Erkenntnis, dass meine „Probleme“ doch eher Charaktereigenschaften sind und ich mich so akzeptieren muss, wie ich eben bin. Das hat mir sehr geholfen, mich selbst zu akzeptieren.

Mein Leben lang verspüre ich eine extreme Unsicherheit in direkter Kommunikation mit anderen Menschen – erstaunlicherweise oft bei jenen, die ich besonders sympathisch und vertrauenswürdig finde. Mimik, Gestik und sonstige nonverbale Kommunikation erkenne ich nur in „guten Phasen“ oder in „neutralen Phasen“ bei Menschen, die ich einen Großteil meines Lebens intensiv kenne (z.B. Eltern und Schwester). Ich sehe zwar, dass mich jemand direkt ansieht, kann jedoch die Intention nicht deuten. Ebenso kann ich meine eigene nonverbale Kommunikation nur eingeschränkt steuern. Oft bekomme ich gesagt, dass ich auf eine gewisse Art wirke, obwohl in mir drin meist das komplette Gegenteil passiert und ich auch sicher bin, dies auszustrahlen. Viele Verhaltensweisen bzw. gesellschaftliche Erwartungen habe ich aus Erzählungen und Berichten meiner Mutter (Pädagogin) über Beobachtungen aus ihrem Arbeitskontext „abgespeichert“ und auf meiner innerlichen „Checkliste“ hinterlegt. Wenn ich dann in einer entsprechenden Situation bin, hole ich diese in Gedanken hervor und ermahne mich, ja zu versuchen, so zu handeln, wie es offenbar erwartet wird. Wenn ich die Körpersprache anderer mal erkenne, ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich anderen meine Beobachtungen mitteile bzw. wenigstens ein sehr großes Bedürfnis verspüre, dies zu tun.

Dieses Nicht-Erkennen/Deuten-Können wirkt sich natürlich massiv auf meinen Alltag aus. Telefonieren fällt mir schwer, da ich nie weiß, wann ich dran bin und Gesprächspartner*innen noch häufiger ins Wort falle als in direkten Gesprächen. Es klappt mittlerweile zwar besser, ist aber weiterhin purer Stress. Zumindest wenn inhaltlich wichtige Informationen ausgetauscht werden sollen, bevorzuge ich schriftliche Kommunikation – nicht zuletzt um einen Nachweis und die Chance zu haben, mein Anliegen einigermaßen strukturiert vorbringen zu können. Das ist wichtig, denn mein Sprachverständnis ist teils stark eingeschränkt. Ich nehme in solchen Momenten Gesagtes lediglich als dumpfen Klang wahr, oder so, als ob mein*e Gegenüber in einer mir unbekannten Fremdsprache spricht. Außerdem bin ich meist von Reizen im Sicht- und Hörumfeld abgelenkt. In diesen Situationen übergehe ich mich, will performen und „normal“ wirken. Wenn ich dann kurz darauf (z. B. in einen anderen Raum) flüchten kann, mit Herzrasen, Atmenschwierigkeiten, Bauchschmerzen und Tränen in den Augen, beginne ich innerlich zu schreien, beiße in meinen Schal o. ä.. Solche Panikreaktionen in direkter zwischenmenschlicher Interaktion gehören für mich zum Alltag. Teilweise kommt es auch zu Parallelitäten. Dabei nehme ich wahr, dass ich mich auf eine – meist nicht angestrebte – Art und Weise verhalte, und betrachte mich, wie von mir selbst losgelöst, kann aber weder eingreifen noch stoppen.

Da ich Nähe-Distanz-Verhältnisse zu meinen Kommunikationspartner*innen nur schwer einschätzen kann, dauert beispielsweise das Schreiben von E-Mails sehr lange, weil ich unsicher bin, welche Formulierungen angemessen sind. Ebenso tue ich mich schwer damit, Leute mit Spitznamen anzusprechen, wenn sie mir nicht in einem direkten Austausch einmal explizit mitgeteilt haben, dass sie das wünschen. Mit diesen Dingen geht einher, dass ich Probleme habe, engeren Kontakt oder gar Freundschaften aufzubauen und zu halten. Ich verstehe schlicht die Systematik nicht. Und dass ich überhaupt nicht einschätzen kann, ob jemand nur oberflächlich freundlich zu mir ist oder mir gar Signale sendet, die ich weder erkennen noch deuten kann, ist auch nicht gerade hilfreich. Das Paradoxe ist, dass ich mir die engere Interaktion mit anderen so sehr wünsche, sie auch brauche, um mich aus ihr zu nähren, und sie mir zugleich schadet. Oft geht es mir schon während einer Verabredung o. ä. nicht gut. Sobald ich dann zuhause bin, setzen Paralyse und Krankheitsgefühl ein, obwohl ich mich so sehr auf die Person(en) und Treffen gefreut habe. Ich komme nicht mehr aus dem Bett, starre in einem fort die Decke an, weine, weil es mich so sehr frustriert. Dieser Zustand kann gut mal eine Woche anhalten. Deshalb bevorzuge ich Aktivitäten, bei denen etwas gemeinsam gemacht wird, aber keine dauerhaften direkten Interaktionen nötig oder kurze Auszeiten möglich sind.

Allgemein habe ich das Gefühl, die (Lebens-)Welt auf andere Art und Weise wahrzunehmen als die meisten anderen Menschen. Mein (Alltags-)Fokus ist auf andere Dinge gerichtet. Ein normaler Einkauf ist für mich beispielsweise eine Hauptaktivität und keine Nebensache. Ich muss das schon richtig einplanen, weil mich dieser Programmpunkt auf mehreren Ebenen stark fordert. Ein Initialmoment fand während eines Forschungsprojekts in der Uni statt. Eine Aufgabe bestand darin, sich an einem Ort niederzulassen und eine Stunde lang bewusst auf die Umgebung zu achten. Als wir die Übung in der Gruppe auswerteten, beschrieben nacheinander alle anderen wie neu und anders ihre Eindrücke waren, dass sie Geräusche, Gerüche und visuelle Dinge wahrgenommen hätten, die ihnen bislang insbesondere in dieser Pluralität und Gleichzeitigkeit unbekannt gewesen seien. Das war der Punkt, an dem ich erstmals realisierte, dass bei mir irgendetwas anders läuft. Zwar habe ich dadurch, dass die Haupttätigkeit in dieser Situation darin bestand, auf die Wahrnehmung zu achten, Eindrücke und Reize ebenfalls bewusster verarbeitet als sonst. Dennoch dachte ich mir bei jedem Bericht meiner Kommiliton*innen: „Das ist doch ganz normal. Das ist doch immer so, dass man das alles gleichzeitig wahrnimmt. Wieso ist das jetzt etwas Besonderes, das so hervorgehoben werden muss?“ Später habe ich nochmal bei einzelnen Personen nachgefragt, ob das für sie wirklich so anders und neu gewesen sei und ob sie nicht auch immer so viel mitbekommen würden und sich dann eben durch bewusste Konzentration auf eine Sache für eben diese entscheiden würden. Vorher habe ich mich in einigen Aspekten zwar durchaus als merkwürdig eingestuft, aber nie in Bezug auf die Art, wie ich Dinge wahrnehme.

Die bewusste Entscheidung und Steuerung ist ein zentraler Aspekt. Um mich auf etwas konzentrieren zu können und Ablenkung durch Umweltreize möglichst zu unterbinden, habe ich Strategien entwickelt, die Abhilfe leisten. So stelle ich etwa einen „Rauschmodus“ im Ohr ein oder stelle meine Sicht „unscharf“, um mich in der Stadt bewegen zu können (z. B. beim Fahrrad- oder Autofahren) oder (letzteres um) Gesprächen besser folgen zu können. Das funktioniert zwar einigermaßen gut, kostet jedoch viel Kraft und Energie. Belastend ist es z. B. auf der Arbeit. Sobald ein Geräusch kommt, kann ich mich nicht mehr auf meine Aufgaben konzentrieren und brauche lange, bis ich in einen Konzentrationsmodus zurückkomme. Schon in der Grundschule hieß es: „Anna arbeitet meist zielstrebig und ausdauernd. Sie braucht aber nicht selten viel Zeit, um überhaupt mit der Arbeit zu beginnen. […] Ihre Arbeitsweise ist recht langsam. […] Mit der nötigen Motivation […] bei guter Konzentration […] zunehmend lernwillig und anstrengungsbereit.“.

Ich habe ein großes Absicherungsbedürfnis: Rahmenbedingungen klären, Kontinuitäten einrichten, Neues nur innerhalb dieser (weiten) vertrauten Räume. Veränderungen sind purer Stress, und äußern sich in Form von Anpassungsschwierigkeiten. Auch wenn ich die Veränderung im Nachhinein positiv bewerte, kann ich mich zunächst nicht darüber freuen. Sie durchbricht meine gewohnten Strukturen. Leider führt meine anfängliche Abneigung nicht selten dazu, dass mein Verhalten negativ oder als nicht wertschätzend beurteilt wird. Das macht mich traurig, weil es ja nicht so gemeint ist. Spontane Veränderungen sind problematisch. Sich mal kurzfristig treffen hieß bei mir lange in frühestens drei Tagen. Das hat sich inzwischen deutlich verbessert. Meine strengen Tagesstrukturen konnte ich vor einigen Jahren aufgeben. Ich habe mir meine Listen abgewöhnt, weil ich mich freier, zugänglicher, nahbarer und sozial kompatibler fühlen wollte. (Neben täglichen To Do-Listen, habe ich z. B. Urlaube fast minutengenau vorgeplant.) Es hat zwar meine Spontanität erhöht, aber zugleich mein Leben ins Chaos gestürzt. Dennoch wehrt sich alles in mir, wieder mit den Listen anzufangen. Auch die im Zusammenhang mit vermehrten und intensiveren depressiven Episoden einsetzende Gleichgültigkeit hatte auf diese Weise etwas gutes („Hab ich doch ohnehin keinen Einfluss drauf.“).

Die depressiven Episoden haben, soweit ich mich erinnern kann, im Alter von etwa 12 Jahren angefangen. Nicht, dass es mir davor immer super ging. Verloren in meiner Traumwelt habe ich bis dahin vieles einfach gut ausblenden oder fantasievoll aushandeln können. Ab diesem Zeitpunkt erinnere ich mich auch an die bis heute anhaltenden Beurteilungen seitens meiner Familie, dass ich immer so negativ denke. Ich solle doch mal positiv auf die Dinge schauen. Selbst habe ich mein Denken gar nicht als negativ, sondern vielmehr als kritisch-rational, oft aber auch als wertungsfrei/beobachtend, empfunden. Ebenso wurde mir bereits als Kind häufig gesagt, dass ich zu erwachsen denke bzw. sein wolle, und tatsächlich interessierten mich die „Erwachsenenthemen und -gespräche“ oft mehr als Dinge, die andere in meinem Alter interessierten.

Ich liebe es, Dinge zu analysieren, mich in komplizierten, tiefgründigen Themen zu verlieren, Strategiespiele zu spielen und Menschen zu beobachten. Ich kann mich wunderbar in (neue) Interessen hineinsteigern. Neben einem großen zeitlichen Investment erfahren diese auch große Präsenz in allen Lebensbereichen. Und meine absolut liebste Beschäftigung ist das (An-) Ordnen von Dingen. Früher habe ich beispielsweise immer das Besteck im Besteckkasten sortiert und es hat mich immer vollkommen aus der Bahn geworfen, wenn diese Ordnung durch eine andere Person nicht eingehalten wurde. Ich brauchte dann erstmal ein paar Minuten, um mich wieder zu sammeln, weil eine grundlegende Struktur in meinem Alltag durchbrochen wurde. Für mein Umfeld war und ist vollkommen unverständlich, warum ich darauf so großen Wert lege. Nachdem ich mittlerweile seit mehreren Jahren nicht mehr bei meinen Eltern wohne, ist es zwar immer noch etwas, dass mich innerlich aufwühlt, aber es fällt mir leichter, damit umzugehen, da es nicht mehr zu meinem täglichen Leben gehört.

Seit Herbst 2013 starke Probleme mit der Verdauung. Medizinische Tests haben nichts ergeben. Nach zunehmender Verschlimmerung, die im Spätsommer 2018 darin mündete, dass ich nichts bis maximal wenige Löffel Nahrung am Tag zu mir nehmen konnte, Überweisung an eine Spezialambulanz sowie Ernährungsberatung. Es folgte eine strenge Diät und langsame Wiederheranführung an normale Kost. Ich habe gelernt, was ich essen kann bzw. wie ich wann handeln muss, damit es mir einigermaßen gut geht. Ich will mich dahingehend nicht beklagen, es ist händelbar geworden und besser als ich es mir vorstellen konnte. Allerdings bleibt die ständige Angst, dass die schlimmen Symptome irgendwann wiederkehren werden. Einige Zeit hatte ich es gut unter Kontrolle, konnte mich aufgrund des Leidesdruckes gut selbstdisziplinieren. Aktuell habe ich nicht die Kraft dazu.

Erste körperliche Zusammenbrüche im November und Dezember 2019: Ich erkenne, dass ich Unterstützung brauche. Die Pandemie und damit einhergehende klar definierte Verhaltensregeln (Begrüßungsrituale, keine häufigen Sozialkontakte) kommen mir sehr entgegen. Endlich muss ich mich nicht mehr dafür rechtfertigen, dass ich mich nur selten unter andere Menschen begebe. Und die Unsicherheit, was bei Begrüßungen und Verabschiedungen von mir erwartet wird, entspannt sich – alle sollen Abstand halten. Die Frage „Ist jetzt eine Umarmung angebracht? Oder doch eher Winken oder Händeschütteln?“ war endlich weniger präsent.

Ende des Jahres spitzt sich die Situation dramatisch zu. Schon mal bei einer Videokonferenz im Sitzen vor der Kamera bewusstlos geworden? Da war mir klar, jetzt muss die Reißleine gezogen werden. „Pause“. Ein mehrmonatiger Auslandsaufenthalt. Dieser war zugleich eine große Herausforderung, weil ich viele Sicherheiten zurücklassen musste. Es schwang allerdings auch immer das Wissen mit, dass es sich nur um eine temporäre Auszeit handelte. Trotzdem redete ich mir ein, dass ich es auch in Zukunft entspannter angehen lassen würde und alles besser werde. Ich schaffe das allein! Ab dem Moment der Rückkehr kam auch der Stress zurück und wurde immer schlimmer. Darüber legte ich – halbbewusst – eine Wolke aus Gleichgültigkeit – in der Annahme, dass nach dem Studienabschluss alles ganz automatisch besser sein und einfach von mir abfallen würde. Also Zähne zusammenbeißen.

Das eine Jahr schaffe ich auch noch und danach, ja danach wird alles besser!

Tatsächlich trat durch den Wegfall der Arbeitsbelastung nur jener (theoretisch) abstreifbare Stress weg. Die tiefsitzenden Probleme, die ich unter der Aufopferung fürs Studium vergraben hatte, blieben.

Seit Juli 2022 zunehmende sprachliche Einschränkungen: Verlust/Minderung des sprachlichen Niveaus bzw. der Ausdruckfähigkeit. Mir entfallen sehr häufig Wörter und Bezeichnungen und es dauert sehr lange, bis ich sinnvolle Formulierungen selbst in Alltagssituationen zusammenbekomme. Daraus folgt eine zusätzliche, belastastende Unsicherheit. Starke Konzentrationsprobleme: Ich kann mir auch für kurze Zeit viele Dinge nicht merken, vergesse z. B. oft, was ich gerade machen wollte, und brauche dadurch auch für kleine Tätigkeiten extrem viele Anläufe; starke Aufmerksamkeitsprobleme: „Oh, da schwebt ein Staubkorn vorbei.“; extrem starke Schwierigkeiten im Umgang mit Reizen (v.a. Geräusche, Licht): In extremen Fällen kann mir selbst von Bäumen abfallendes Laub zu viel werden; extrem starke Schwierigkeiten im Sozialverhalten.

Ich liege oft paralysiert im Bett, starre an die Decke und bin unfähig irgendetwas zu tun. Manchmal stehe ich in meinem Zimmer vor der Wand und überlege, mit wie viel Schwung ich mit meinem Kopf dagegen schlagen muss, damit endlich Ruhe ist. Manchmal hole ich aus, stoppe aber wieder, weil es mir zu riskant ist. Was wenn ich zu fest zuschlage? Am Ende bin ich körperlich eingeschränkt, kann mich eventuell gar nicht mehr artikulieren und dann bestimmen andere über mich. Vielleicht bin ich dann auch hirntot. Ich habe eine Patientenverfügung. Darin steht, dass in Fällen, in denen eine geistige Beeinträchtigung vorliegt, die dazu führt, dass ich nicht mehr selbstständig leben und entscheiden kann, alle lebenserhaltenen Maßnahmen eingestellt werden sollen. Rein realistisch: Bringt mir diese Aktion den gewünschten Effekt? Ist es mir das Risiko wert? Ich entscheide mich dagegen. Dann doch lieber jeden Tag weinen, verzweifelt sein und auf Besserung hoffen.

Ab Januar 2023 verschlimmert sich die ganze Situation sehr stark. Häufige Überreizungen bis kurz vor oder zu Zusammenbrüchen bestimmen meinen Alltag. Das ist sie also, die Erlösung, das so sehr herbeigesehnte Ende meines Studiums! Seitdem war ich gute eineinhalb Jahre in einem dumpfen Zustand. Mein Kopf fühlte sich wabernd an, als wenn Nebel oder Dunst das Denken und Konzentrieren unmöglich macht. Massive Abwehrreaktionen setzen ein, sobald eine möglicherweise belastende/stressige Situation auch nur durch irgendetwas ausgelöst werden könnte. Ich bin schläfrig und langsam im Kopf. Meist habe ich den ganzen Tag über ein Druckgefühl im Kopf, häufig Kopfschmerzen und ein Pfeifen im Ohr. Zugleich macht sich verstärkt eine Gleichgültigkeit (bezüglich persönlicher Belange, Prinzipien und Werte, aber auch allgemein) in mir breit, die sich schon seit März 2022 langsam einschlich.

Antriebslosigkeit, Ziellosigkeit: Ich erkenne mich selbst nicht mehr wieder. Fast alles, was mir einmal wichtig war und (von dem ich dachte, dass es) mich charakterlich ausmacht (z. B. Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Strukturiertheit, Ordnung, Offenheit, gut zuhören können, (echtes) Interesse an anderen Menschen, Zielstrebigkeit, Ausdauer, Wissbegierde, Geduld) ist mir abhandengekommen. Jetzt bin ich, wie als eine Art Schutzschild, unangenehm, eklig, unberechenbar und egozentrisch geworden. Ich langweile mich mit mir selbst. Nichts neues lasse ich in mein Leben. Auch in den wenigen Unterhaltungen erzähle ich immer die gleichen Dinge, aus Angst vor neuen Informationen, die dann verarbeitet werden müssten. Ich verspüre zunehmende Einsamkeit, obwohl ich genau das Gegenteil anstrebe. Mich quält das Gefühl, dass ich andere durch meine Anwesenheit, die Zusammenarbeit oder gemeinsame Aktivitäten nur belästige und unnötig in Anspruch nehme. Ich biete in sozialen Kontexten keinen Mehrwert. Die Reaktionen, sofern ich sie wahrnehme und richtig deute, sind ausschließlich kurze oder abrupt abgebrochene Kommunikation. Während sich mit anderen, wenn auch nur beiläufig, unterhalten wird, scheint dies mit mir nicht vorstellbar. Versuche meinerseits, werden eigentlich immer abgeblockt bzw. nicht aufgegriffen. Zumindest kommt es mir so vor. Zugleich wird mir paradoxerweise, wenn die Sprache auf mein baldiges Ausscheiden bei meiner bisherigen Arbeitsstelle kommt, immer wieder gesagt, wie schade es doch sei und was für ein Verlust. Ob das ernst gemeint ist, kann ich nicht einschätzen. Und als wäre das alles nicht schon genug, habe ich mich natürlich auch noch Hals über Kopf und absolut aussichtslos verliebt. Respekt, Anna, brillantes Timing!

Ich habe massive Angst, in ein Loch zu fallen, aus dem ich nicht mehr rauskomme. Ich fasse den Plan, mich bis Herbst 2023 zu erholen und zu regenerieren. Glücklicherweise bleibt eine wichtige Alltagsstruktur durch Verlängerung meines Arbeitsvertrages erhalten. Immerhin habe ich einen Grund aufzustehen, mich zu pflegen und rauszugehen. Ich bin überzeugt, ich muss einfach nur lernen, mit meinem neuen Alltag und meinen neuen Freiheiten umzugehen. Die bittere Erkenntnis ist, dass das alles nur Prokrastination war. Es setzte keine Erholung durch weniger Aufgaben und Verpflichtungen ein. Das bloße Dasein und Leben belastet mich. Obwohl ich mit einer 20 Stunden-Stelle genügend Freizeit haben müsste, fühlt es sich weniger an als während der Masterarbeit (Montag bis Mittwoch: Arbeit, Haushalt, Sport etc., Donnerstag bis Sonntag: 16 Stunden MA, schlafen). Ich komme morgens nicht oder nur schlecht aus dem Bett. Abgesehen von Tagträumen, die bisher der Grund für längeres Verweilen im Bett waren, nun aber zunehmend in den Hintergrund treten, und gelegentlichem Wegdösen, das häufiger wird und mich noch müder macht, fühle ich mich einfach schlapp und beginne jeden Tag aufs Neue damit zu prokrastinieren, um alle neuen, nicht planbaren, aber auch erwartbaren Eindrücke, die auf mich zukommen werden, möglichst lange aufzuschieben. Das bringt mir allerdings keine Entspannung, sondern frustriert und stresst mich nur zusätzlich. Aus diesem Muster auszubrechen, gelingt mir nicht. Mangelndes Selbstvertrauen und schlechte Selbsteinschätzung meiner eigenen Fähigkeiten setzen mir zu. Meine sozialkommunikativen Probleme belasten mich äußerst stark und vermehrt.

Ende November eskaliert die Situation im Zusammenhang mit einem nebensächlichen Vorgang auf der Arbeit. Daraufhin suche ich mir erstmals professionelle Hilfe. Die PTS tut gut, obwohl ich die Therapeutin mir gegenüber alles andere als sympathisch finde. Ich fühle mich auch von ihr nicht verstanden. Aber es tut so gut, endlich mal so vieles rauszulassen an unausgesprochenen Gedanken und Tränen. Natürlich reichen 50 Minuten nicht, um auch nur ansatzweise einen Überblick der vorliegenden Situation zu skizzieren. Sie versteift sich auf ein Thema, das auf jeden Fall wichtig, aber nicht mal der Kern dessen ist, wovon ich ihr soeben erzählt habe. Schließlich stellt sie mir noch die Frage, ob ich suizidal sei. Nein, das bin ich nicht. Erstaunlicherweise. Obwohl es mir so schrecklich geht, sieht irgendeine Pore in mir immer noch einen Grund dafür, weiterzumachen. Daraufhin kreuzt sie auf dem PTV 11-Bogen „stationäre psychiatrische Behandlung“ an. Am besten solle ich mich schnellstmöglich selbst einweisen. Wie das funktioniert, erfahre ich nicht. Dass ich unteranderem eine Überweisung mit Vermittlungscode benötige, um auch nur die Aussicht auf eine Sprechstunde bei einem*einer Facharzt*Fachärztin zu erhalten, weiß ich zu dem Zeitpunkt ebenfalls nicht. Erleichtert, diesen ersten Schritt gegangen zu sein, bin ich zunächst sogar etwas zuversichtlich. Die schwierigste Hürde ist überwunden.

So kurz vor Weihnachten sind keine Termine mehr zu bekommen, denke ich mir. Bereits in der Nacht, in der ich die Notbremse zog und die PTS auf 116117.de buchte, schrieb ich einfach alles runter, was mir durch den Kopf ging. Ich muss doch vorbereitet sein, sonst glaubt mir doch niemand. Ich beende meine Dokumentation mit den Worten

Während ich das hier aufschreibe, kommt es mir ja selbst total absurd vor, dass ich vieles einfach so aushalte, von mir wegschiebe oder weitermache. Es zeigt mir aber auch, dass ich aktiv etwas verändern muss, wenn ich will, dass es mir besser geht.

Immer noch drängt sich der Gedanke in den Vordergrund, dass es andere Leute gibt, denen es noch viel schlechter geht als mir. Will ich denen etwa die Möglichkeit einer Therapie rauben? Mittlerweile ist mir das egal. Was nütze ich der Gesellschaft, wenn ich nicht leistungsfähig bin, obwohl das Potential in mir schlummert? Zunehmend treten körperliche Beschwerden auf (Verdauungsprobleme, verschiedene Entzündungen (u.a. Zahnfleisch, Haut, allgemeine Schlappheit)), die nicht mehr abklingen. Darüber hinaus verspüre ich eine zunehmende Belastung durch die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation, wobei ich mir (noch) nicht ganz sicher bin, ob es sich tatsächlich um diese Themen handelt oder um eine allgemeine Überforderung im Prozess des Erwachsenwerdens. Vermutlich ist es eine Mischung aus beidem. Ende Februar sind ist die körperliche Zersetzung so weit fortgeschritten, dass ich eine Hausärztin aufsuche. Sie ist bislang die erste, von der mir echtes Verständnis entgegenkommt. Sie stellt mir eine Überweisung für eine psychiatrische Behandlung aus. Zudem möchte sie mich auf unbestimmte Zeit krankschreiben. Das lehne ich ab. „Bitte nehmen Sie mir nicht noch die letzten Wochen meiner einzigen Struktur und unmittelbaren Sozialkontakte weg.“, flehe ich sie an. Sie willigt ein, betont jedoch, dass ich umgehend eine Notaufnahme aufsuchen solle, sollte sich mein Zustand weiter verschlechtern.

Die Suche nach einer Sprechstunde gestaltet sich auch jetzt nicht einfacher. Ich verbringe jeden Tag mehrere Stunden mit der Suche und Kontaktaufnahme. Sowohl die Vermittlungsstelle der Krankenkasse als auch jene der 116117 können mir keinen Termin vermitteln. In ganz Berlin und Umland soll es keinen einzigen Termin innerhalb der nächsten Wochen und Monate geben?! Meine Verdachtsdiagnosen seien einfach nicht schlimm genug. Ich solle selbst rumtelefonieren. Als „Geheimtipp“ werden mir die Ambulanzen der städtischen Kliniken genannt. Klasse, ganz toll! Ich bin ohnehin nicht die beste Version meiner selbst und soll telefonieren, eine Art der Kommunikation, die mich schon immer vor große Herausforderungen gestellt hat. Die Überwindung ist mehr als groß und zudem eine unnötige zusätzliche Belastung in meinem ohnehin kritischen Zustand. Allerdings ist das scheinbar die einzige Chance, die mir bleibt. Ich telefoniere alle Ambulanzen ab. Bei der einen wird mir gesagt: „Sie wohnen nicht in unserem Stadtteil? Dann können wir sie nicht behandeln. Für sie ist Klinik XY zuständig. Schönen Tag noch.“, als ich dort anrufe, heißt es: „Nein, wir können Ihnen nicht helfen. Und zuständig sind wir für Sie auch nicht. Hier haben Sie die Nummer vom Bettenhaus. Da können Sie mal nachfragen, ob die eventuell in ein paar Monaten etwas frei haben.“. Ich will mich doch gar nicht stationär behandeln lassen. Warum versteht das denn niemand! Es geht doch zunächst mal um ein Erstgespräch.

Nach mehreren verzweifelten Anrufen und herzzerreißenden Mailboxnachrichten an verschiedenen Stellen, wähle ich noch einmal die 116117 und lasse mir einen Termin für eine zweite PTS vermitteln. Dieser Termin ist der Wendepunkt. Ich fühle mich gehört, endlich. Es gibt einen zweiten Termin, dann einen dritten. Und schließlich bekomme ich die erlösende Nachricht: „Ich möchte Ihnen einen Therapieplatz anbieten.“. Durchatmen. Langsam. Ein. Und Aus. Jetzt kann es nur noch bergauf gehen. Tatsächlich bekomme ich noch am gleichen Tag bei meinem letzten Anruf in einer psychiatrischen Ambulanz einen Termin, der sogar nur vier Wochen in der Zukunft liegt. „Nur“ ist in meinem Zustand relativ, aber immerhin ist er nicht erst in einem Jahr oder überhaupt nicht.

Plötzlich geht alles ganz schnell und die Ereignisse überschlagen sich. Spontan wird entschieden, dass ich noch länger im Betrieb bleiben kann. Erleichterung. Ich beginne mit der psychotherapeutischen und schließlich auch mit der psychiatrischen Therapie. Ich habe mir lange Gedanken über die Einnahme von Medikamenten gemacht, lehne ich diese normalerweise doch eher ab, wenn es nicht wirklich notwendig ist. Soll ich mich wirklich darauf einlassen, auf unbestimmte Zeit, vielleicht sogar für den Rest meines Lebens Pillen zu schlucken? Begeistert bin ich von der Idee nicht. Wenn überhaupt kommt eine medikamentöse Behandlung für mich auch nur in Kombination mit einer Gesprächstherapie infrage. Letztendlich entscheide ich mich dafür. An meiner Verfassung ist sowieso nichts normal. Außerdem will ich nicht wie mein Vater enden, der zwar eine Zeit lang Antidepressiva genommen, dann aber eigenständig wieder abgesetzt hat. Von außen ist ganz klar ersichtlich, dass das nicht unbedingt die sinnvollste Entscheidung war. Ich gebe dem ganzen also eine Chance.

Heute, ein gutes halbes Jahr später, bin ich stolz und erleichtert zugleich, dass ich es geschafft habe, mir professionelle Unterstützung zu suchen. Das war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Die Medikamente haben zwar ein paar unangenehme Nebenwirkungen, allerdings erleichtern sie mir, mich auf die Therapie einzulassen, und nehmen mir den allgemeinen Stress. Es ist ein ganz eigenes Gefühl unter ihrem Einfluss zu stehen und ich habe gute zwei bis drei Monate gebraucht, um dieses einordnen zu können. Es ist kein Rausch und auch keine Betäubung. Es fühlt sich an, wie auf Watte zu laufen. Alles ist auf eine seltsame Art und Weise gepuffert, angenehm und weich – oder schlicht und ergreifend nicht wichtig genug, um negative Gedanken dazu zu entwickeln. Ich kann mich nicht ärgern, aufregen oder jemandem – und vor allem auch mir selbst – böse sein. Ich kann einfach hinnehmen und die Dinge sein lassen. Das fühlt sich so unbeschreiblich gut an! Manchmal ärgere ich mich auf rationaler Ebene, dass ich mich (auf emotionaler Ebene) nicht ärgern kann. Beispielsweise in Situationen, in denen das durchaus angebracht wäre. Dann denke ich mir aber wiederum: Das ist im Moment doch aber auch wunderschön, wie ein Glücksbärchi auf Wolken zu laufen und den Regenbogen herunterzurutschen. Inzwischen bin ich an dem Punkt angelangt, an dem ich diesen Kompromiss mehr als gerne eingehe. Wie es weitergeht, weiß ich nicht. Und Rückschläge gibt es natürlich auch. Aber das ist unerheblich. Ich bin auf dem richtigen Weg.

 

Warum habe ich mich entschieden, nun Gesicht zu zeigen?

Ich setze mich gerne für Dinge ein, die einen gesellschaftlichen Mehrwert haben. So ein Bekenntnis macht man nicht leichtfertig. Wenn ich mich für ein Engagement entscheide, stehe ich auch voll und ganz dahinter. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, ein Lebensumfeld, in dem Mitmenschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen im Allgemeinen die Wertschätzung erhalten, die sie verdienen, dass all die (angeblich) „Normalen” uns auf Augenhöhe begegnen und uns unsere Würde nicht aberkennen, indem sie nur über uns statt mit uns sprechen, Entscheidungen über unsere Köpfe hinweg für uns treffen und uns entmündigen. Wir sind nicht nur unsere Krankheit oder Behinderung. Wir sind Menschen mit Hobbys, Jobs und Freund*innen. Wir sind die Person, die neben dir in der U-Bahn steht. Wir sind Teil dieser Gesellschaft und wollen auch als solcher gesehen und behandelt werden. Ich bin chronisch krank, na und?

 

Wie hat mein Umfeld reagiert, als es von meiner Krankheit erfahren hat, und welchen Umgang würde ich mir von meinem Umfeld (und der Gesellschaft) in Bezug auf meine Erkrankung wünschen?

Die wenigen, die es wissen, waren zwar überrascht, aber verständnisvoll. Bei meiner Mutter sieht es anders aus. Zuvor hatte sie, als ich ihr von meinen Problemen berichtete und mich ihr anvertraute, kein Verständnis für mich. Es fielen meist Aussagen wie: „Das kenne ich. Ging mir in der Situation auch so.” „Das ist für alle schwer.” usw.. Erst als ich ihr von meiner Therapie erzählte und dass ich Medikamente nehme, hat sie anerkannt, dass ich ernsthafte Schwierigkeiten habe und mir das nicht nur einrede. Erst seit kurzem folgt manchmal dann noch im Nachgang ein „Bei dir ist das aber natürlich nochmal anders.“. Wenn kurz darauf allerdings Sätze wie „Wenn du mal was wirklich Schlimmes [gemeint sind damit physische Erkrankungen] hast, dann bist du froh, …“ fallen, löst sich alles vorab Gesagte wieder in Luft auf. Es braucht wohl noch mehr Zeit – bei ihr und in unserer Gesellschaft – bis psychische Erkrankungen in ihrem Schweregrad und Leidensdruck gleichwertig zu physischen Erkrankungen begriffen werden.

Die meisten in meinem Umfeld wissen allerdings nicht von meinem Gesundheitszustand. Insbesondere im Arbeitskontext fällt es mir schwer, darüber zu sprechen, weil ich negative Konsequenzen befürchte. Wer verlängert schon den Vertrag einer psychisch kranken Mitarbeiterin bzw. stellt diese überhaupt ein? Die könnte ja jeden Moment ausfallen. Dass sie mich (unwissentlich) nur in dieser Verfassung kennen, wird bei der Bewertung außen vorgelassen.

Setzt euch für niederschwellige Kontaktmöglichkeiten zu Hilfs- und Behandlungsangeboten ein. Unnötig viele Recherchen, schwammige oder widersprüchliche Informationen auf Websites und oft ausschließlich telefonische Kontaktangebote sind nicht barrierefrei!

 

Welche Dinge haben mir am meisten geholfen, meine Erkrankung zu akzeptieren?

Ich wurde durch die Erkrankung selbst dazu gezwungen. Gut vier Jahre, nachdem ich erkannt habe, dass ich es ohne professionelle Unterstützung nicht schaffen werde, hat mein Körper mein Verdrängen mit physischer Zersetzung gestraft. Niemand konnte da mehr helfen: „Das hat keine körperlichen Ursachen.”, war die Standardaussage bei Arztbesuchen. Schließlich habe ich mitten in der Nacht einen Termin für eine psychotherapeutische Sprechstunde am nächsten Tag gebucht, nachdem eine Situation auf der Arbeit zwischen mir und einer Kollegin eskaliert ist. Da habe ich beschlossen: So kann ich nicht weitermachen! Als ich gute vier Monate später einen Therapieplatz bekommen habe, hat mir zudem dieses Zugeständnis geholfen, meine Erkrankung als solche zu akzeptieren.
Mittlerweile verstehe ich die Erkrankung bzw. deren Verschlimmerung auch als Chance. Ich muss etwas in meiner Lebensgestaltung ändern, noch mehr auf mich achten. Dadurch setze ich mich automatisch mit meinen Bedürfnissen und Grenzen auseinander und muss mein Handeln öfter als andere reflektieren. Außerdem schärft sie meine Sensibilität für andere stigmatisierte Menschen.

 

Welche Ressourcen nutze ich in Krisensituationen?

Aufräumen, Sortieren und Aussortieren von Sachen; ehrenamtliches Engagement mit tollen Menschen, denn die Welt dreht sich nicht um mich allein; Tagträume oder Podcasts (nicht alles immer die beste Wahl, in Verbindung mit Zwangsgedanken, aber situativ wirksam); Mantra-artige innerliche Zusprüche

It’s still a long way – ich bin noch am Anfang.

 

Was macht meinen Charakter aus und welche meiner Eigenschaften schätze ich am meisten?

Ich bin vielseitig interessiert und liebe es, mich in neue Recherchen zu vertiefen. Außerdem habe ich eine enorm hohe Toleranzschwelle und ein starkes Gerechtigkeits- bzw. Unrechtsempfinden. Deshalb beteilige ich mich gerne an Veränderungsprozessen und erfahre verschiedene Einstellungen und Positionen am liebsten aus erster Hand, mögen sie auch im Widerspruch zu meinen eigenen stehen – erst zuhören, dann Schlüsse ziehen und ganz zum Schluss Handlungen daraus ableiten.

 

Was möchte ich anderen Betroffenen mit auf den Weg geben?

Trau dich und such dir Hilfe! Warte nicht, bis es noch schlimmer wird, besser wird es von allein nämlich nicht. Du bist es Wert, dass man dir zuhört und dich unterstützt. Wahrscheinlich gibt es andere, denen es noch beschissener geht als dir. Aber das ist unerheblich. Du bist wertvoll und verdienst jede Hilfe, die du brauchst! ❤️

 

Was möchte ich Angehörigen mit auf den Weg geben? Wie können sie uns (einerseits) und sich selbst (andererseits) am besten helfen?

Hört zu und nehmt die Krisen und Probleme eures*eurer Gegenüber*s ernst. Bietet Hilfe bei der Terminfindung und -vereinbarung für eine PTS an und bleibt einfach ansprechbar. Dasein hilft mehr als jeder Ratschlag, den ihr gerne geben wollt.

 

*Kleine Ergänzung zum Begriffsfeld „Behinderung“: Sozialisiert in einer Gesellschaft, in der „behindert“ als Schimpfwort Verwendung findet, habe ich den Begriff lange Zeit ebenfalls als negativ und abwertend oder bemitleidenswert empfunden und benutzt. Mit der Zeit habe ich mir vermehrt Gedanken über seine Bedeutung gemacht. Grundsätzlich beschreibt „Behinderung“ ja erstmal nur die Tatsache, dass eine Person in einem Vorhaben durch irgendetwas eingeschränkt, also behindert wird. Wenn ich mit dem Auto über eine Landstraße fahre und ein umgefallener Baumstamm auf der Fahrbahn liegt, bin ich durch diesen darin behindert, meine Fahrt ungestört fortzusetzen, wie ich es gerne würde. Eine Behinderung kann demnach durch äußere Gegebenheiten ebenso wie durch individuelle Vorstellungen der Lebensgestaltung vorliegen.

Ob ein Mensch (in etwas) behindert ist, kann demnach je nach Perspektive variieren. Persönlich bin ich jedoch der Ansicht, dass es niemandem außer der betroffenen Person selbst zusteht, eine solche Betitelung vorzunehmen und sie erst recht nicht als Maßstab zur Einschätzung und Bewertung zu nutzen. Jeder Mensch ist mehr als das. Deshalb habe ich mich dazu entschieden, vor allem Adjektive zu nutzen. Diese beschreiben Eigenschaften, ohne diese als Hauptmerkmal festzusetzen. Zudem werden Substantive meist in Kombination mit „habe/hat“ oder „bin/ist“ verwendet. Eine Erkrankung zu „haben“ suggeriert auch immer, dass man sie, wie einen materiellen Besitz, wieder abstreifen und loswerden kann. Das ist jedoch nicht immer der Fall. Außerdem haben Erkrankungen durchaus Auswirkungen auf die persönliche Entwicklung und den Charakter. Wäre ich nicht selbst erkrankt, hätte ich mit großer Sicherheit weniger Sympathien für andere Betroffene.