Komplexe PTBS: Jedes Gefühl, das du unterdrückst, stellt sich hinten wieder an!
Betroffene: Emiliya Lewicka
Jahrgang: 2003
Diagnose: Komplexe posttraumatische Belastungsstörung
Therapien: Traumatherapie, Verhaltenstherapie, EMDR, Kunsttherapie, Musiktherapie
Ressourcen: Gesang, künstlerische Arbeit & kreatives Schreiben
Wie und wann hast du von deiner Erkrankung erfahren?
Mein Erleben als hochsensibles Kind mit Erfahrungen von sexuellem Missbrauch spaltete mich bereits früh von dem Rest der Welt ab. Es war ein langer, steiniger Prozess der Ermöglichung erster Heilungsschritte. Es gab nie „Den Tag, an dem alles begann“. Es entstand eine „Sammlung“ aus schmerzhaften Erlebnissen, welche eine vielseitige Symptomatik über Jahre entwickelte.
Ich lebte lange im Gefängnis der erlebten Gewalt und meiner eigenen Innenwelt, doch es blieb lange ungreifbar. Für mich und auch die Fachleute. Auf dem Heilungsweg hielt ich an verschiedenen Stationen, an denen ich Puzzleteile des Gesamtbilds fand, aus dem, was war und werden darf, und mich nun einer Integration der Erlebnisse nähern kann. Ich erhielt das große Geschenk auf Menschen zu treffen, die mich auf diesem Weg bis heute begleiten, inspirieren und stärken. Besonders in den letzten zwei Jahren, in denen mein Leben durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und damit neuen traumatischen Erfahrungen geprägt wurde, konfrontierten mich zurückgebliebene Ängste immer näher an der Oberfläche des Bewusstseins. Dem begann ich mich zum ersten mal nach 10 Jahren bisheriger Therapie zuzuwenden und erfuhr Empathie, Wertschätzung und Halt durch meine Therapeutin. Die glücklichen Umstände unserer Begegnung haben mir das Leben gerettet.
Warum hast du dich entschieden, nun Gesicht zu zeigen?
Einerseits bin ich hier, um anderen Betroffenen zu zeigen, dass sie nicht alleine sind, dass es Hoffnung gibt! Aufzuzeigen, welche Wege aus oder auch mit der Erkrankung es gibt und, dass niemand aufgrund einer Erkrankung weniger Wertschätzung verdient und genauso eigene Stärken und Ressourcen hat.
Wir müssen der Gesellschaft die Scham, Ängste und Vorurteile über psychische Erkrankungen nehmen. Sie hat zur Folge eine Unterdrückung der Betroffenen und das Festhalten an Tabus. Es kann jede*n treffen!
Dafür finde ich wichtig, Betroffenen das Wort zu geben, um aus eigener Sicht über unser authentisches Erleben zu berichten. So nehmen wir nicht-Betroffenen Befürchtungen und können Themen nahbarer machen. So sehe ich eine Zukunft, in welcher sich der Kreis von Verständnis und Akzeptanz in der Gesellschaft weiten kann, in dem Betroffene und auch Angehörige mit unterschiedlichen Geschichten sich gesehen und verstanden fühlen.
Wie hat dein Umfeld reagiert, als es von deiner Krankheit erfahren hat, und welchen Umgang würdest du dir von deinem Umfeld (und der Gesellschaft) in Bezug auf deine Erkrankung wünschen?
Ich empfand es als deutliche Entlastung für mich, anderen mit all dem zu begegnen, was ich bin und was mich ausmacht, ohne mich zu verstecken. Offenheit baut Vorurteile ab uns schafft authentische, wertschätzende Beziehungen. Dies wurde mir klar, nachdem ich selbst als Schülerin begann über meine Erkrankungen in der Klasse zu sprechen, wodurch mein Verhalten wie beispielsweise der soziale Rückzug oder Neurodivergenz für nicht-Betroffene und Lehrkräfte so greifbarer wurde.
Für Angehörige und Familie ist die Akzeptanz und der Umgang mit der Erkrankung ein schmerzhafter Prozess, voller offener Fragen und oft auch Schuldgefühlen. Ich treffe dabei zwar überwiegend auf wohlwollende Gespräche, jedoch in jüngeren Jahren oft auf Unverständnis und Hilflosigkeit.
Wir alle dürfen lernen, gemeinsam das Heute zu gestalten und auf einander und uns selbst zu achten. Ich halte dafür offene Gespräche für essenziell, um zu spüren, wie es weitergehen kann.
Ich wünsche mir, dass Traumafolgestörungen mehr Aufklärung und Sichtbarkeit erhalten – vor allem in Berufsgruppen, die Kinder alltäglich begleiten. Ich wünsche mir achtsame Erwachsene und Akteur:innen im sozialen und gesundheitlichen Sektor, die Anzeichen von erlebter Gewalt und Missbrauch erkennen. Dass sie Werkzeuge kennen, um in Verdachtsmomenten mit Kindern ins Gespräch zu gehen und Sicherheit zu vermitteln.
Wir müssen Präventionsarbeit dafür stärken. Die Sensibilisierung für Themen wie psychische Erkrankungen, Neurodivergenz, Mobbing und Rassismus und deren psychische Folgen muss in die Mitte der Gesellschaft rücken.
Kinder sollten lernen können, offen über Gefühle zu sprechen, ihre Emotionen zu regulieren, eigene und fremde Grenzen zu verstehen und zu kommunizieren sowie positive Glaubenssätze in sich zu stärken.
Welche Dinge haben dir am meisten geholfen, die Krankheit zu akzeptieren?
In erster Linie hat mir geholfen ein Verständnis für die Ursachen meiner Erkrankung zu erlangen, wodurch ich mir mehr und mehr selbst mit Wertschätzung und Empathie begegnen konnte und nun anerkenne, dass meine Überlebenschance nur gegeben war, durch Abspaltung traumatischer Ereignisse, die die Symptomatik und ihre Lösungsversuche verursachte. Genauso, dass ich keine Schuld trage für meine Erkrankung oder die Gewalt, die sie verursacht hat. Auch Stillstand und Rückschritte gehören dazu. Doch es geht darum, immer wieder gut für sich zu Sorgen, um diesen Momenten zu begegnen. Zu akzeptieren, was da ist und die Entscheidung bewusst zu lenken, wo es weiter geht.
Welche Ressourcen nutzt du in Krisensituationen?
Krisen sind Zeiten der inneren Wandlung. Sie gehören in uns allen dazu, in unterschiedlichen Formen. Ich versuche in Krisen Momente der Ruhe und Erdung zu schaffen, um einerseits Kraft zu tanken, indem ich achtsam in meinen Körper höre, was er braucht. Andererseits den Emotionen, die gerade da sind und Raum suchen, Ausdruck zu geben. Dabei hilft es mir, mich kreativen Prozessen zu öffnen oder auch im schlichten Schreiben ein Ventil zu finden.
Auch Skills, die die Sinne ansprechen, den Fokus lenken und im Hier und Jetzt halten, helfen mir bei mir selbst zu bleiben (beispielsweise Igelbälle auf der Haut fühlen oder eine kalte Dusche).
Was möchtest du anderen Betroffenen mit auf den Weg geben?
Erlaube dir zu fühlen! Und vertraue darauf, dass da jemand sein wird, der dich sieht, mit allem, was du (jetzt gerade) bist. Die Gesellschaft drängt uns oft in funktionale Rollen, in denen wir unsere Emotionen und Bedürfnisse unterdrücken. Doch alles, was wir zu verdrängen versuchen, wartet auf den Moment unserer Zuwendung und Loslösung. Andernfalls werden sie die Sprache des Körpers suchen und sich in Erschöpfung oder Schmerzen zeigen. Jedes Gefühl trägt eine Botschaft in sich und darf Raum bekommen gehört zu werden. Finde diesen Raum für dich! Gehe in kreativen Ausdruck. Kreationen innerer Bilder sind Spiegel der Seele.
Bleib nicht alleine und traue dich nach Hilfe zu fragen!
Sei gut zu dir, wie zu einer besten Freundin!
Was möchtest du anderen Angehörigen mit auf den Weg geben? Wie können sie dir (einerseits) und sich selbst (andererseits) am besten helfen?
Angehörige Eltern möchte ich ermutigen im Gespräch zu bleiben mit betroffenen (Kindern), nicht wegzuschauen, sich mit der Erkrankung zu beschäftigen und Hilfe auch für sich selbst anzunehmen. Ein Umfeld zu schaffen, in dem alle Beteiligten aufgefangen werden und lernen können, mit der Erkrankung eines Familienmitglieds umzugehen. Nicht nach der Schuld und dem Warum zu suchen, sondern die Situation anzunehmen und mit dem Blick nach vorne Heilungschancen zu ermöglichen. Ein stabiles und sicheres Umfeld ist für Betroffene die Voraussetzung, langsam auf die Beine zu kommen und zu genesen.
Sucht nach Ankern und Hilfsangeboten, nehmt sie an! Bleibt nicht alleine und geht in Erfahrungsaustausch mit Gleichgesinnten! Neben der Fürsorge um andere, achtet auf die eigenen Fürsorge. Manchmal kann sie auch Abgrenzung bedeuten.
Das möchte ich besonders jungen Angehörigen widmen: Ihr seid nicht verantwortlich für die Erkrankung eines Elternteils! Nicht für die endlose Überzeugungsarbeit Hilfe anzunehmen. Es ist in Ordnung sich loszulösen und ihre Entscheidung zu akzeptieren. Jeder Mensch muss sich selbst retten WOLLEN und BEREIT SEIN.
Was macht deinen Charakter aus und welche Eigenschaft schätzt du an dir am meisten?
Mein Gesamtwesen macht vor allem hohe Kreativität und Empathiefähigkeit aus. Ich sehe besonders diese Kombination als großes Geschenk, da es mir möglich ist, mein Erleben auf Papier zu visualisieren, Gefühle in Melodien und Texten zu spiegeln. Der kreative, achtsame Ausdruck wurde zu meinem Sprachrohr; als Kind, welches keine Worte fand und heute als Erwachsene, um andere Betroffene zu erreichen und Trost zu schenken. Ich bin dankbar, Menschen mit Musik und meiner Stimme berühren zu können, Mut zu machen, den eigenen Weg zu finden.
Heute erkenne ich die besondere Ressource, meine Erfahrungen der Emotionsverarbeitung und Heilung in meiner eigenen Arbeit mit Betroffenen sowie Angehörigen nutzen zu können. Es schafft verbundene Begegnungen und ermöglicht Heilungsprozesse, die ich vertrauensvoll und auf Augenhöhe begleiten darf.
Emiliya ist auf Instagram: @soulart_emiliya
Emiliya hat in der Mental Health Redaktion vor vier Jahren den Blog Locating your Soul mit aufgezogen.