Magersucht und Depressionen: Ich habe das Recht zu jedem Zeitpunkt ernstgenommen zu werden!
Betroffene: Elli
Jahrgang: 2007
Diagnosen: Anorexia nervosa, schwere depressive Episode, Borderline (Verdachtsdiagnose)
Therapien: (Kognitive) Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Therapie, DBT, 1 x Aufenthalt in der KJP (2 Monate), 1 x Krisen Aufenthalt KJP, 1 x Aufenthalt Schön Klinik Roseneck (5 Monate)
Ressourcen: Freunde, Malen & Zeichnen, Spazieren und Musik hören, meine Social Media Accounts
Wie und wann hast du von deiner Erkrankung erfahren?
Ich bin mir nicht sicher, aber ich gehe selbst stark davon aus, dass ich schon seit dem ich ein Kind bin an Depressionen leide. Die Essstörung kam bei mir erst Mitte 2022 dazu. Die Diagnose allerdings bekam ich erst fast ein Jahr später, weil mein damaliger Therapeut die Essstörung auf Grund meines Gewichts nicht ernstgenommen hat. Durch mein anfängliches Übergewicht dauert es natürlich länger bis man zum Stereotyp Magersucht passt. In meinem Fall habe ich die ersten Monate, wenn nicht sogar im kompletten ersten Jahr meiner Essstörung sehr viele Komplimente zu meinem Körper bekommen, welche mich bestärkten weiter abzunehmen. Ich wurde gelobt, wenn ich auf Süßigkeiten verzichtete und mir wurde häufig gesagt, dass ich jetzt viel besser und hübscher aussehe.
Die Diagnose „atypische Anorexie“ habe ich dann das erste Mal schwarz auf weiß im November 2023 gelesen, nach dem ich mich selbst aus der KJP entlassen habe. Um ehrlich zu sein, habe ich mich mit dem atypisch davor absolut nicht krank genug gefühlt, obwohl das Denken (im Nachhinein gesehen) auch schon krank ist. Daher wurde ich leider nach der KJP direkt rückfällig und fiel noch stärker in die Essstörung.
Meine Depressionen wurden zu dem Zeitpunkt so stark, dass ich Wochen nicht wirklich aus dem Bett kam und auch nicht mehr zur Schule ging. Im März 2024 wurde ich in der Schön Klinik Roseneck aufgenommen, weil meine Therapeutin die ambulante Therapie in meinen Zustand nicht weiterführen wollte. Ich war zu dem Zeitpunkt sehr unmotiviert, etwas an der Situation zu ändern, weil ich nur noch hoffnungslos auf meine Zukunft blickte. Ich ging also hin mit dem Denken, dass ich dort nicht länger als eine Woche bleiben würde. Schlussendlich bleib ich dort 5 Monate, lernte viel über mich selbst und lernt unglaublich tolle Menschen kennen. Leider lief auch dort nicht alles perfekt!
Jedoch hat es mir sehr geholfen, dass viele Mitpatient:innen sehr motiviert waren etwas zu ändern und wir häufig zusammen Expos gemacht haben (z.B. Eis/Kuchen essen waren).
Warum hast du dich entschieden, nun Gesicht zu zeigen?
Wenn ich nun zurückblicke, wünschte ich mir nichts mehr als, dass man mir direkt am Anfang geholfen hätte, als ich nach den ersten Monate nach Hilfe gefragt habe. Jedoch wurde nur abfällig auf mich geschaut und es wurden Sätze gesagt, wie: „Du siehst doch noch gut aus“ und „Anderen geht es viel schlechter, du hast eine Klinik gar nicht nötig“. Am Anfang wollte ich etwas ändern und hätte es bestimmt einfacher geschafft. Jetzt ist das Ganze viel schwerer.
Ich verstehe nicht, warum man an seinem tiefsten Punkt sein muss, um Hilfe zu bekommen. Ich bin mir sicher, dass wenn man mir am Anfang geholfen hätte, ich nie so tief in die Essstörung gerutscht wäre.
Die Krankheit wird immer mehr zur Gewöhnung und Teil des Alltags und gleichzeitig ist sie eine Sucht. Trotz mehrerer Klinikaufenthalte kämpfe ich täglich mit der Stimme der Essstörung, die sich tief in meinen Kopf festgesetzt hat. Mittlerweile kann ich jedoch sagen, dass ich viel motivierter bin von der Essstörung zu heilen, an mir zu arbeiten und etwas zu verändern. Ich habe mittlerweile auch Tage, an denen es mit dem Essen gut klappt.
Wissen deine Freund*innen/Schulkamerad*innen/Kommiliton*innenüber deine Erkrankung Bescheid? Wenn ja, wie haben sie darauf reagiert und wie gehen sie damit um?
Dadurch, dass ich mich viel zurückgezogen habe, habe ich leider viel Kontakt zu Freund:innen verloren. Im Moment habe ich welchen vor allem zu Freunden, die ich in der Klinik kennengelernt habe.
Ich habe dieses Schuljahr die Schule gewechselt und wiederhole jetzt die 11. Klasse. Ich hatte echt Angst vor dem Schritt, aber ich bereue es nicht, diesen gemacht zu haben, da ich mit meiner Klasse gerade sehr zufrieden bin und einige Lehrer auch sehr nett sind. Ich stehe im Kontakt mit der Schulpsychologin und meiner Klassenlehrerin, die beide recht verständnisvoll sind. Meine Klassenlehrerin ist Psychologielehrerin, was für mich sehr praktisch ist, da sie sich dann mit meinen Diagnosen etwas auskennt.
Würdest du dir von ihnen einen anderen Umgang mit dir wünschen?
Ich habe mit meiner Klassenlehrerin ganz gut am Anfang direkt sprechen können. Mir war das sehr wichtig, weil ich im Prinzip das gesamte letzte Jahr krankgeschrieben war und es somit gerade schwerer habe wieder in den Schulalltag reinzufinden.
Manchmal würde ich mir wünschen, dass alle mal ein Tag in meinem Kopf leben könnten, um zu verstehen, wie es wirklich ist die Erkrankungen zu haben. Oft habe ich das Gefühl, dass viele zwar sagen, dass sie mich verstehen, aber dann Sätze sagen, wie „Versuch einfach trotzdem zur Schule zu kommen“ – nein, einfach ich es leider gar nicht.
Ich finde es schwierig dahingehend einen genauen Wunsch zu formulieren, aber ich würde mir mehr Zeit und Verständnis wünschen.
Wird an deiner Schule auf die Themen psychische Erkrankungen, Achtsamkeit, Stress, Suizidalität in einem Unterrichtsfach oder in einem gesonderten Kurs/AG darauf eingegangen? Würdest du dir da eine Veränderung und/oder mehr Aufklärung wünschen?
Da ich bisher erst seit ein paar Monaten auf der Schule bin, fällt es mir schwer die Frage ausführlich zu beantworten. Jedoch muss man sagen, dass meine Schule auf Sozialwesen (Psychologie, Pädagogik, Soziologie) spezialisiert ist und man daher davon ausgehen kann, dass viele sich dort mit den Themen recht gut auskennen bzw. (wahrscheinlich) offen sind, Neues darüber zu lernen und einen nicht direkt verurteilen würden.
Konntest du dich einer Lehrkraft anvertrauen?
Vor allem in meiner alten Schule hat das gut geklappt mit dem Anvertrauen, da ich meine Klassenlehrer von der 7. bis zur 10. Klasse hatte und wir alle sehr vertraut miteinander waren. In der 10. Klasse traute ich mich das erste Mal an einem Abend auf der Klassenfahrt über meine wahren Gefühle unter der funktionierenden Maske zu sprechen, weil ich einfach nicht mehr weiter wusste. Die Woche drauf wurde ich zu meiner Schulsozialarbeiterin weitergeleitet, mit welcher ich dann mehrere Gespräche führte und sie mir dann half einen Therapieplatz zu finden.
Welche Dinge haben dir am meisten geholfen, die Krankheit zu akzeptieren?
In den letzten Monaten stehe ich im engen Kontakt zu anderen Betroffenen und nehme meinen Alltag mit der Krankheit und den Weg zu Heilung auf meinen Social Media Accounts mit.
Mir hilft der gegenseitige Austausch sehr und vor allem das Wissen, dass ich mit meiner Geschichte anderen helfen kann.
Welche Skills nutzt du in Krisensituationen?
Zu meinen Lieblings Skills gehören:
Schreien, Igelball, Knete, Eiswürfel, Ammoniak
Was möchtest du anderen betroffenen jungen Menschen mit auf den Weg geben?
Du hast das Recht, in JEDEM Zustand ernstgenommen zu werden und Hilfe zu bekommen! Keiner kann anhand deines Aussehens oder einen Gesprächs feststellen, wie deine innere Welt aussieht und wie sehr du leidest!
Vor allem bei einer Essstörung sollte man so schnell, wie möglich Hilfe bekommen, da man da schnell, sehr tief reinrutschen kann, dabei sollte das Gewicht keine Rolle spielen! Wenn man zum Arzt geht, weil man einen gebrochen Fuß hat, würde er ja auch nicht sagen „Kommen Sie in drei Monaten wieder, anderen geht es viel schlechter, Sie können doch noch humpeln. Melden Sie sich, wenn Sie nicht mehr laufen können.“ – Warum ist das dann bei psychischen Erkrankungen nicht genau so?!
Und bitte, bitte wechselt den Therapeuten, wenn ihr euch da nicht wohl fühlt! Ich bereue sehr, dass ich meinen ersten Therapeuten nicht schon früher gewechselt habe. Ich dachte mir oft, dass das normal ist, wie er handelt und, dass es zu lange dauern würde jemanden neuen zu finden. Schlussendlich bin ich dort nur kränker geworden und habe nicht die Hilfe bekommen, die ich gebracht hätte. Ende 2023 habe ich dann meinen Therapeuten gewechselt und bin jetzt bei einer Therapeutin, bei der ich sehr zufrieden bin!
Was macht deinen Charakter aus und welche Eigenschaft schätzt du an dir am meisten?
Ich würde von mir behaupten, dass ich sehr hilfsbereit und einfühlsam bin. Mir sind die Gefühle von anderen sehr wichtig und, dass sich jeder wohl und sicher fühlt. Durch meine Persönlichkeitsstörung neige ich dazu super impulsiv zu sein und durch meine euphorischen Zustände komme ich auf viele verrückte Ideen, die häufig aber ganz cool sind, wie dass ich mich getraut habe meinen eigenen Podcast zu starten in dem ich meine Geschichte erzähle, meine Meinungen und Erfahrungen äußere und Gäste einlade, die offen über ihre Krankheitsbilder sprechen und ihre Geschichte teilen.
Ich freue mich total, dass ich es geschafft habe, das Projekt umzusetzen und die Rückmeldung bekomme, dass ich anderen Menschen durch meine Offenheit tatsächlich helfe.
Elli ist auf Social Media:
Instagram: https://www.instagram.com/ellismentalhealth/profilecard/?igsh=MXM3OGI5c2VpNTU0bw==
TikTok: https://www.tiktok.com/@ellismhbackup?_t=8qrZVR4q0dk&_r=1
Podcast: https://open.spotify.com/show/4cqoRIPYbS2kq6hEPMiD3V?si=AQdiFTtzRyS1SNCjZNnb3A