PTBS, Depression, Borderline & Bulimie: Ich entschied mich gegen den Kampf – nun gewinne ich jeden Tag.

Betroffene: Jaqueline Nehrkorn
Jahrgang: 1991
Diagnosen: Posttraumatische Belastungsstörung, Depression, Borderline, Atypische Bulimie
Therapien: Offene und geschlossene stationäre Psychotherapie, Kriseninterventionen sowie tiefenpsychologische Traumatherapie, Tagesklinik und bis heute ambulante Verhaltenstherapie
Ressourcen: Alltagsstruktur, Tiere, Musik und Tanz, Schreiben und Lesen, Freunde

 

Wie und wann hast du von deiner Erkrankung erfahren?

Dank eines sehr sensiblen und hilfsbereiten Online-Umfelds begann ich meinen Leidensdruck bereits im Alter von 14 Jahren in Hinblick auf psychische Erkrankungen zu hinterfragen. Als sich mit 17 Jahren die Ereignisse überschlugen und ich mich mit meinen Suizidgedanken einer Sozialarbeiterin anvertraute, war ich drei Monate in der geschlossenen Jugendpsychiatrie und erhielt dort eine Vielzahl an Diagnosen.

 

Warum hast du dich entschieden, nun Gesicht zu zeigen?

Bereits nach meinem ersten Klinikaufenthalt entschied ich mich für mein wahres Ich: Meine Narben sind, wenn ich mich im Sommer nicht durch viel Kleidung selbst quälen will, sichtbar. Ich definiere mich nicht über sie, aber meine psychischen Wunden und meine Bedürfnisse gehören immer zu mir. Weil psychische Belastungen Realität sind und zum Leben dazu gehören wie die Erkältung und Knochenbrüche.

Vor ein paar Jahren entschied ich mich zur ehrenamtlichen Leitung von Selbsthilfegruppen und bewusst auch dazu, mit meinem richtigen Namen in der Öffentlichkeit für Sensibilisierung und Aufklärung zu stehen.

 

Wie hat dein Umfeld reagiert, als es von deiner Krankheit erfahren hat, und welchen Umgang würdest du dir von deinem Umfeld (und der Gesellschaft) in Bezug auf deine Erkrankung wünschen?

Im schulischen und beruflichen Umfeld erhielt ich wenig direkte Reaktionen, vielleicht aus Ignoranz, vielleicht viel eher aus Angst und Unwissenheit. Ich habe meinen ersten Klinikaufenthalt während der Schulzeit absolut nicht verheimlicht, aber rückblickend betrachtet wäre mir eine direkte Kommunikation eventuell lieber gewesen (z.B. ein kurzes Gespräch mit dem ganzen Kurs/der Klasse), wodurch Raum für Unsicherheit, Fragen usw. hätte entstehen können. So fühlte ich mich häufig behandelt wie ein rohes Ei. Ansonsten erhielt und erhalte ich noch heute überwiegend wertschätzende, interessierte und liebevolle Rückmeldungen. Vereinzelt gibt es immer wieder Reaktionen wie „Bist du nun wieder gesund?“ und „Du musst doch aber dies … du musst doch da …“, die mich weiter antreiben, über psychische Belastungen und Erkrankungen aufklären zu wollen.

 

Welche Dinge haben dir am meisten geholfen, die Krankheit zu akzeptieren?

Der Austausch mit den Pfleger*innen in den Krankenhäusern und vor allem Gespräche mit anderen Betroffenen in der Selbsthilfegruppe. Hier wird immer wieder klar: Krank bedeutet nicht faul oder doof. Krank bedeutet auch nicht seltsam oder gefährlich. Mittlerweile bin ich auch in einer Partnerschaft mit einem Menschen, der u.a. von Depressionen betroffen ist und wir machen gemeinsam riesige Schritte beim Thema Selbstakzeptanz. Außerdem habe ich im Laufe der Therapieerfahrungen verstanden, warum mein jüngeres Ich gewisse Glaubenssätze und Verhaltensweisen brauchte, um zu überleben.

 

Welche Ressourcen nutzt du in Krisensituationen?

Atmen. Vor allem und immer wieder atmen, um meine Anspannung nicht ins Unermessliche anwachsen zu lassen. Für meine verletzten Seiten ist es dann vor allem wichtig mir klar zu machen, dass ich Gefühle erleben und aushalten darf. Ich mache mir außerdem klar, dass ich nicht nur Hilflosigkeit und Verzweiflung bin – das, was im Vordergrund steht, überdeckt nur den Rest. Der Rest ist aber immer noch da! Die nächsten Schritte sind Schreiben als Verarbeitung, meine Wohlfühlmusik (die an unbeschwerte Momente erinnert) als Hoffnungsschimmer und Gespräche mit meinen Liebsten als Balsam.

 

Was möchtest du anderen Betroffenen mit auf den Weg geben?

Du trägst alles, was du für ein glücklicheres und zufriedeneres Leben brauchst, in dir. Das bedeutet nicht, dass du einfach alles hinnehmen und strahlen sollst. Das bedeutet aber, dass es unfassbar viele Wege gibt, zu erreichen, was du dir wünscht. Wenn es bislang nicht funktioniert hat, schlage einen anderen ein oder strecke deine Hand nach anderen Begleitern aus. Das Leben ist für dich.

 

Was möchtest du anderen Angehörigen mit auf den Weg geben? Wie können sie dir (einerseits) und sich selbst (andererseits) am besten helfen?

Information und Kommunikation sind in meinen Augen das A und O. Du bist interessiert? Google, Bücher, Beratungsstellen und auch ich selbst liefern dir Antworten. Ich bin selbst sowohl betroffen als auch Angehörige. Im Vordergrund sollte immer die eigene psychische Stabilität stehen und als Angehörige*r eines psychisch erkrankten Menschen kann diese genauso schnell ins Wanken geraten. Ich bin kein rohes Ei – etwas, das ich tue oder sage belastet dich? Sprich mit mir (oder mit einer unabhängigen beratenden Person) über deine Gefühle und sag mir, was dir guttut. Grenzen setzen, Grenzen öffnen – gemeinsam packen wir das!

 

Was macht deinen Charakter aus und welche Eigenschaft schätzt du an dir am meisten?

Ich bin in Musik verliebt, höre und singe und tanze für mein Leben gerne. Diesen Sinn für Ästhetik schätze ich an mir. Außerdem bin ich vielseitig interessiert, sehr neugierig und liebe es mein Wissen an andere weiterzugeben. Dadurch bin ich zum einen hilfsbereit, zum anderen höre ich aber auch sehr genau hin. Meine kindliche und lustige Seite ist sehr verrückt, ich kann extrem albern werden, lache viel und bin ein optimistischer und lebensbejahender Mensch. Außerdem habe ich viel Liebe zu geben. Klar bin ich nicht immer liebevoll – das merke ich besonders beim Thema Nähe und Distanz. Aber mein Herz schlägt über alle Maßen für Tiere und ich betüddel sehr gerne meine Liebsten, wenn ich kann.

 

Jaqueline bloggt auf der Seite Geistreich und ist auch auf Instagram zu finden.