Schritt für Schritt geht die Essstörung heimlich mit.

Name (und ggf. Titel): Happy Kalorie – Michaela Schubert
Beruf: Präventionsdozentin
Jahrgang: 1982
Klienten: Betroffene von Essstörungen sowie deren Angehörige
Therapieangebote/Hilfsangebote: Aufklärung und Prävention in Schulen (Schüler, Lehrer, Eltern), Erfahrungsaustausch für Betroffene und Angehörige

 

Wie definiert ein Experte die Störung? Welche Kriterien müssen für eine Diagnose vorliegen und was sind die typischen Symptome?

Zwar heißt der Oberbegriff Essstörung, was eine Störung im Essverhalten nahelegt. Jedoch ist das nur die halbe Wahrheit. Ja, das Essverhalten ist anders als es „normalerweise“ sein sollte. Was die wenigsten wissen ist, dass Essstörungen nur bedingt etwas mit dem Essen bzw. mit dem Nicht-Essen zu tun haben.
Mithilfe einer Magersucht, Ess-Brech-Sucht, Essanfallstörung oder Ähnlichem wird versucht, ein viel tiefer liegendes Problem zu be-/verarbeiten. Das vermeintlich gestörte Essverhalten ist das Symptom, nicht die Ursache. Keiner entscheidet sich von heute auf morgen bewusst für eine Essstörung. Die Erkrankung beginnt schleichend. Das Erkennen einer Essstörung kann viele Wochen, Monate und schlimmstenfalls Jahre dauern. Fakt ist: Wenn eine Essstörung bemerkt wird, ist die Zerstörung bereits in vollem Gange.

Ein paar wenige typische Symptome einer Magersucht:

  • Es werden sehr kleine, kalorienarme Portionen gegessen.
  • In der Freizeit wird oft gern für andere gekocht und gebacken.
  • Betroffene besitzen einen stark ausgeprägten Bewegungsdrang.
  • Sie fühlen sich zu dick, obwohl sie sehr dünn sind, sie wiegen sich häufig.
  • Enormer Gewichtsverlust in kürzester Zeit.
  • Es werden immer öfter Ausreden genutzt, um nicht essen zu müssen.

Ein paar wenige typische Symptome einer Ess-Brech-Sucht:

  • Es wird heimlich gegessen.
  • Hochkalorische Lebensmittel werden anfallsartig verschlungen und anschließend mit verschiedenen Maßnahmen kompensiert.
  • Während oder nach den Mahlzeiten gehen Betroffene sofort ins Bad, um zu erbrechen.
  • Sie sind stets im Diätmodus und nach außen sehr diszipliniert.
  • Betroffene müssen ein gewisses Pensum an sportlichen Aktivitäten absolvieren.
  • Manche nehmen Appetitzügler, Abführmittel und wassertreibende Medikamente ein.

Ein paar wenige typische Symptome einer Essanfallstörung:

  • Betroffene essen, auch ohne körperlichen Hunger.
  • Sie können nicht aufhören zu essen, selbst bei einem unangenehmen Völlegefühl.
  • Übergewicht kann eine Folge sein, muss es aber nicht.
  • Betroffene sind sportlich eher inaktiv.
  • Gesundheitliche und körperliche Einschränkungen, wie das metabolische Syndrom können die Folge sein.
  • Sie sind getrieben von Schuldgefühlen und Minderwertigkeitskomplexen.

Das sind alles Kann-aber-muss-nicht-sein-Faktoren. Neben den typischen Anzeichen gibt es unzählige atypische Merkmale, die auf den ersten Blick nicht auf eine Essstörung hindeuten. Das erschwert zusätzlich ein frühzeitiges Erkennen. Je eher eine Essstörung erkannt wird, desto eher können intervenierende Schritte in die Wege geleitet werden. Doch dafür müssen die möglichen Anzeichen im Umfeld bekannt sein.

 

Welche Vorurteile bzw. welche falschen Vorstellungen gibt es in der Gesellschaft zu der Störung?

Vorurteile gibt es viele, sehr viele. Das gängigste Vorurteil ist, dass Essstörungen lediglich ein albernes Verhaltensmuster sind, um schnell schlank zu werden bzw. es zu bleiben. Falsch, denn die krankheitsauslösenden Ursachen liegen oftmals ganz woanders.
Wie letztendlich eine Essstörung entsteht, kann keiner beantworten, denn jeder geht mit Schicksalsschlägen und anderen auslösenden Faktoren (bspw. Mobbing) anders um. Eine Essstörung hat unzählige Gesichter und ebenso viele mögliche Ursachen.
Ganz verbreitet ist zudem die Ansicht, dass die Essstörung nach einer Therapie vollkommen geheilt ist und der oder die Betroffene wieder ganz „normal“ essen kann. Eine Essstörung, egal welche Form, wird in erster Linie mit der gestörten Nahrungsaufnahme in Verbindung gebracht. Selbst wenn sich das Essverhalten und das Gewicht wieder stabilisiert haben, heißt das noch lange nicht, dass die psychische Erkrankung überstanden ist.

 

Was sind die klassischen bzw. hilfreichsten Therapiemöglichkeiten?

Eine Therapie kann helfen, um den Kreislauf der Essstörung zu stoppen. Achtung: Die regionalen Möglichkeiten sind begrenzt. Mit langen Wartezeiten ist zu rechnen. Es gibt:

  • Stationäre Aufenthalte in bestenfalls auf Essstörungen spezialisierten Kliniken
  • Teilstationäre Therapien, z.B. in einer Tagesklinik
  • Therapeutische Wohngruppen
  • Ambulante Gesprächstherapien bei Psychotherapeuten, Verhaltenstherapeuten oder Psychiatern
  • Beratungsstellen (sind vor allem für Angehörige hilfreich)
  • Betreute Selbsthilfegruppen
  • Im Notfall (Suizidgefahr, körperlicher Kollaps etc.) bitte das nächste Krankenhaus aufsuchen. Zwangseinweisungen sind bei Minderjährigen durch Eltern – in Absprache mit einem Psychiater – möglich. Bei Erwachsenen ist es schwieriger. Der Sozialpsychiatrische Dienst des jeweiligen Krankenhauses kann einen zwangsweisen stationären Aufenthalt in die Wege leiten.

     

    In wie weit ist eine Heilung, ein lebenswertes/erfülltes Leben mit der Störung möglich?

    Ob eine Heilung möglich ist oder nicht, sieht und empfindet jeder anders. Fakt ist: Essstörungen gehören zu den stoffungebundenen Süchten. Es gibt trockene Alkoholiker, Nichtraucher und abstinente Heroinabhänge. Sind diese alle geheilt?
    Ich bin der Meinung: nein. Süchte bleiben in der Regel ein Leben lang. Diese treten in den Hintergrund, richtig. Aber dennoch bleibt man süchtig. Essgestörte können sich von ihrem Suchtmittel im Vergleich zu den anderen Süchten, nicht entwöhnen, denn diese Menschen sind von etwas krankhaft abhängig, was wir alle zum (Über-)Leben benötigen.
    Eine Essstörung kann m.E. nicht im klassischen Sinne geheilt werden, denn es sind keine Viren oder Bakterien wie bei einem Schnupfen im Spiel. Therapien und gegebenenfalls spezielle Medikamente unterstützen ein stabil-werden und vertreiben die pathologischen Gedankengänge, aber sie unterstützen keine Heilung im wörtlichen Sinne.

    Es gibt ein erfülltes Leben nach der Essstörung und dafür lohnt es sich zu kämpfen. Zwar ist nichts mehr so wie vorher, aber anders heißt nicht automatisch schlecht.

    Was bleibt, ist (bewusst oder unbewusst) der tägliche Kampf.

     

    Welche besonderen Fähigkeiten haben Betroffene?

    Essgestörte Personen reagieren sehr sensibel auf das an sie gerichtete Wort. Betroffene wollen keinem zur Last fallen, auch wenn es gelegentlich anders erscheint. Jeden Tag kämpfen sie gegen den Dämon ihrer individuellen Essstörung an. Zudem gehen sie sehr aufmerksam durchs Leben und haben oftmals eine ausgeprägte soziale Ader.

    Hier könnt ihr mehr erfahren: Happy Kalorie und in Michaelas Happy Kalorie Blog.