Psychische Erkrankungen als Chance – vom Reichtum im „Defizit“
Die #mutmachleute stellen einen ersten mutmachenden Gastbeitrag von Ute Vahl vor.
Danke, Ute, für deine weisen Worte.
„Wir alle haben zwei Leben. Das zweite Leben kann beginnen, wenn uns bewusst wird, dass wir nur ein Leben haben.“
Es ist nie zu spät, so zu sein, wie man es schon immer gerne gewesen wäre!
Dieser Beitrag ist eine Einladung an alle, sich neuen und verändernden Sichtweisen zu öffnen, um neue und verändernde Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten zu erkennen. Diese Handlungsmöglichkeiten können uns unterstützen, anders mit den subjektiven und objektiven Auswirkungen einer Erkrankung umzugehen und diese im günstigsten Fall zu überwinden.
Der Begriff „psychische Störungen“ wird mit einer erschreckenden und ausschließenden Selbstverständlichkeit verwendet. Was der Begriff ausschließt? Den einer psychischen Erkrankung innewohnenden Reichtum. Der Begriff „Störung“ ist problematisch und selbst in Wissenschaft und Lehre gibt es die Tendenz, diesen Begriff gegen andere – geeignetere – auszutauschen. Um ein Beispiel zu nennen: für „Persönlichkeitsstörungen“ wird immer häufiger der Begriff „Persönlichkeitsorganisation“ verwendet.
Warum ist der Ausdruck „Störung“ problematisch? Weil er
1. die Existenz einer gesunden Normpersönlichkeit unterstellt – und diese gibt es definitiv nicht
2. den Mangel und die Probleme betont, und damit Wesentliches, vor allem die Chancen und den Reichtum, übersieht.
Menschen, die von einer psychischen Erkrankung betroffen sind, sind keine durch und durch gestörten Persönlichkeiten. Vielmehr sind sie Träger von Symptomen/Symptomenkomplexen, in denen sich ausdrückt, was ihnen (noch) bzw. gerade „fehlt“. Wobei es kein Fehlen im eigentlichen Sinne ist. Vielmehr geht es darum, dass bestimmte Fähigkeiten, z.B. die Fähigkeit zur Selbstregulation und Selbstreflexion oder Ressourcen, Möglichkeiten und Kompetenzen entweder noch nicht hinreichend trainiert und ausgeprägt oder aufgrund intrapsychischer Konflikte dem Bewusstsein und der willentlichen Steuerung nicht zugänglich sind. Und dieses „Fehlen“ äußert sich in entwickelten und erworbenen Denk-, Reaktions- und Beziehungsmustern, die bei den Betroffenen ein subjektives Empfinden von Leidensdruck und Unlösbarkeit auslösen.
Diese Denk-, Reaktions- und Beziehungsmuster sind Teil einer entwickelten Überlebensstrategie, die helfen soll, bestimmte intra- und interpersonelle Konflikte zu verarbeiten. Diese Strategie beinhaltet ein vertrautes und zum Teil sehr umfangreiches Repertoire an Verhaltensweisen, die für die Betroffenen etwas Wesentliches sicherstellen sollen:
„Jedes Verhalten hat in einem bestimmten Kontext eine positive Funktion und jedes Verhalten ist immer auch Ausdruck einer Vermeidungs- oder Bewältigungsstrategie zur Absicherung oder zum Schutz eigener Bedürfnisse.“
Auf der Bedürfnisebene sind alle Menschen – Betroffene wie Nicht-Betroffene – einig. Konflikte entstehen auf der Strategieebene (psychische Erlebnisebene und Ebene des sichtbaren Verhaltens).
Verhalten ist veränderbar und eine Rückkehr von der Strategieebene auf die Bedürfnisebene ist möglich.
Jeder Mensch ist einzigartig – ausgestattet mit einem spezifischen Persönlichkeitsmuster. So gesehen gibt es einfach nur verschiedene Persönlichkeitsvarianten. Jeder Mensch ist ausgestattet mit bestimmten Eigenschaften, die zum Mensch-Sein gehören: gewissenhaft, selbstbewusst, anhänglich, dramatisch, wachsam, sensibel, lässig, fleißig, ordentlich, verlässlich, kritisch, aufmerksam, vorsichtig, unabhängig, bescheiden, emotional … Diese Eigenschaften, die in jedem Menschen als Möglichkeit angelegt sind, sind bei jedem Menschen aufgrund der eigenen Lern- und Lebensgeschichte unterschiedlich stark ausgeprägt und führen zu einem mehr oder weniger ausgeprägten Persönlichkeitsstil. Selbst die übersteigerte Ausprägung bestimmter Eigenschaften bedeutet nicht, dass die anderen ausgleichenden Eigenschaften fehlen. Sie sind vorhanden – alle!
Warum das so wichtig ist?
Weil jedem Persönlichkeitsmuster, das als „Störung“ eingestuft wird, nicht nur die übersteigert ausgeprägten, häufig als einschränkend und problematisch erlebten menschlichen Eigenschaften innewohnen, sondern auch spezifische Fähigkeiten. Das bedeutet, dass in jeder „Störung“ und in jeder Schwäche Stärken liegen – ein Reichtum im „Defizit“.
In der emotionalen Instabilität liegt z.B. die Fähigkeit, Perspektivenwechsel durchzuführen und begeisterungsfähig zu sein. Ängstlich-vermeidende Persönlichkeiten haben durch (übersteigerte) Vorsicht schon manches Unglück verhindert oder sich vor Überforderungssituationen bewahrt. Es gilt, die verborgene Stärke in der als Schwäche erlebten Eigenschaft zu finden und diese Stärke zu fokussieren, sich selbst in dieser Stärke zu erfahren.
Die im Kontext einer Persönlichkeits- oder sonstigen „Störung“ vernachlässigten, d.h. noch nicht hinreichend entwickelten Merkmale zeigen eine Entwicklungsrichtung auf. Die Entwicklung geht in Richtung der verborgenen Stärken. Hier zeigt sich ein gangbarer Weg aus der Problem- und Schwächen-(Defizit-)Orientierung, ein Weg in die Lösung einer entwicklungsbedingten Aufgabe und in die Heilung im Sinne einer Vervollständigung des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns: wo Angst herrscht, darf als Gegenkraft Vertrauen entwickelt werden, wo Ohnmacht herrscht, darf Wirksamkeit erlebt werden, wo Einsamkeit vorherrscht, darf Bindung und Verbundenheit entwickelt werden, wo Sinn und Orientierung fehlen, dürfen persönlich akzeptierte Ziele und tragende Werte gefunden werden. Daraus ergibt sich für mich eine Schlüsselfrage für jeden Heilungsprozess:
„Wer bin ich – ohne meine psychische Erkrankung – und was trägt mich von innen?“
Diese Frage stand im Zentrum meines eigenen therapeutischen Prozesses. Sie hat mich auf einer Entdeckungsreise begleitet, die mich zurückgeführt hat in ein lebenswertes und sinnvolles Leben. „Das, was du die ganze Zeit suchtest, warst in Wirklichkeit du selbst.“ Die Antworten liegen in den Fragen, die Lösungen liegen in den Problemen, die Chancen in den Schwierigkeiten.
Symptome und Symptomenkomplexe sind weniger als Krankheit zu verstehen, sondern vielmehr als Defizit in Wahrnehmung und Bewusstsein. Nicht der Betroffene ist defizitär, sondern seine naturgegebenen Fähigkeiten – zur Wahrnehmung seiner selbst/der anderen/der Welt- und sein Bewusstsein sind (noch) nicht hinreichend ausgeprägt. Daraus folgt ein Mangel an persönlichem Wachstum, der lern- und lebensgeschichtlich begründet ist. Dieses Wachstum kann jedoch durch eigene Entscheidungen, Erweiterung der Handlungskompetenz, gezielte Entwicklung der Steuerungsfähigkeit (Selbstreflexion und Selbstregulation), mithin durch Aufbau eines stabilen Selbstwertes und einer erlebten Selbstwirksamkeit nachgeholt und erlangt werden.
Psychische Erkrankungen sind – genauso wie Probleme, Belastungen und Krisen sog. gesunder Menschen – eine Lösungsaufgabe im eigenen Leben.
Wer sich für einen nachhaltigen und dauerhaften Veränderungsprozess mit dem Ziel einer deutlichen Zustandsverbesserung entscheidet, der darf sich bewusst machen, dass er bereits zwei der größten und wichtigsten Schritte gegangen ist:
1. Er wünscht sich eine Veränderung des Ist-Zustandes.
2. Er hält Veränderung für möglich bzw. er weiß, dass Veränderungen möglich sind.
Nimm deinen Wunsch nach Veränderung – nimm dich in diesem Wunsch – wahr und ernst. Erkläre dich zum wichtigsten Menschen in deinem Leben und kümmere dich um das Notwendige – ohne dich zu bekümmern, damit das Mögliche werden kann. Orientiere dich an dem, was möglich ist. Denn das, was du für möglich hälst, kann zu existieren beginnen.
Mensch-Sein bedeutet lernen, wachsen und sich weiterentwickeln. Letztlich wachsen wir an den Herausforderungen und nicht an dem, was uns bekannt und für uns einfach ist. Du kannst die Zeit nicht zurückdrehen und ungeschehen machen, was war und was ist. Doch du kannst HEUTE – in jedem „Jetzt“ genannten Augenblick neu beginnen und ein neues Ende erschaffen. Das, was war, kannst du nicht ändern – zumindest nicht, wenn es um tatsächliche Begebenheiten geht. Deine Bewertung dessen, was war, kannst du jedoch ändern – in jedem „Jetzt“ genannten Moment. Leben vollzieht sich in der Vorwärtsbewegung: nach vorne leben, rückblickend verstehen. Deine Zukunft beginnt im Hier und Jetzt und du bist frei in der Entscheidung, ob du deine Vergangenheit verlängerst und im Hier und Jetzt wiederholst. Dann bleibst du in Gegenwart und Zukunft der, der du gewesen und geworden bist. Oder du gibst deinem Erleben und Leben – hier und jetzt – eine neue Richtung und Qualität, um der zu werden, der du sein kannst und sein willst.
Ist das einfach? Nein!
Ist das möglich? Ja!
Ist das erstrebenswert? Unbedingt!
An jedem neuen Tag stehen wir vor der Frage, ob wir unsere kostbare Lebensenergie darauf verwenden, das „Alte“ zu bekämpfen und damit zu verlängern und aufrechtzuerhalten oder darauf, das „Neue“ zu erschaffen und damit dem „Alten“ die Energie und den Einfluss auf unser Erleben und Leben zu entziehen. Unsere Energie folgt immer unserer Aufmerksamkeit.
„Wo bist du?
Bist du dort, wo deine Gedanken sind? Oder sind deine Gedanken dort, wo du gerne sein möchtest?“
Legen wir den Fokus auf die Probleme (Symptome), so werden diese größer. Legen wir den Fokus auf die Lösung (Autonomie und Zugehörigkeit), dann können wir in jedem Problem einen Hinweis auf die Lösung erkennen und Teil der Lösung werden. Wir sollten die Vergangenheit als das sehen, was sie ist: eine Erfahrungs- und Erkenntnisquelle, die wir nutzen können, um unsere Situation zu verbessern.
Zielführende Fragen sind:
“Wer will ich sein und wie will ich leben?“
„Was ist meine Vision von meinem Leben?“
„Was will ich erreichen?“
Mit einem Zielbild erschaffen wir Realität, weil unser Wahrnehmungssystem dann alles sehen wird, was uns auf diesem Weg dorthin unterstützt.
Und meine ganz persönliche Empfehlung für euch: entscheidet euch für ein Grundlebensgefühl und nicht für oder gegen ein bestimmtes Verhalten. Meine richtungsweisende Entscheidung lautete: „Ich entscheide mich für Leichtigkeit und Lebensfreude.“ – diese Entscheidung hat mich auf einen Weg geführt, auf dem ich zunächst über all das stolperte, was nicht Freude und nicht Leichtigkeit war – in meinem Denken, meinem Fühlen, meinem Handeln. Diese Steine durfte ich aus dem Weg räumen, um auf der anderen Seite des Weges Leichtigkeit und Lebensfreude zu finden.
Denkt immer daran:
Auch Gesundheit hat Symptome: Freude, Leichtigkeit, Zuversicht, Vertrauen, Zufriedenheit!
Betrachtet eure psychische Erkrankung als Chance und ergreift diese Chance. Entdeckt euren inneren Reichtum, damit ihr ihn für eure Lebensgestaltung nutzen könnt. Ihr seid so viel Mehr als „nur“ eure Gedanken, Gefühle, Handlungen und Erfahrungen, die sich in der psychischen Erkrankung spiegeln. Entdeckt dieses „Mehr“ und die Symptome/Symptomenkomplexe der psychischen Erkrankung können gehen.
Ute Vahl hat bereits einen Borderline – Das Leben unterstützt dich! bei den #mutmachleuten veröffentlicht. Lest mehr bei Ute auf Ute Facebook.
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