Sandy

Bipolare Störung: Intuition als Quelle des Wissens

Betroffene: Sandra Wittwer

Jahrgang: 1978

Diagnosen: Bipolare Störung, Schizoaffektive Störung, Borderline-Persönlichkeitsstörung

Therapien: Tiefenpsychologisch fundierte Gesprächstherapie, Verhaltenstherapie, Psychoanalyse

Ressourcen: Yoga, Schlafen, Träumen, Wolken beobachten, Selbstgespräche

 

Wie und wann hast du von deiner Erkrankung erfahren?

Ich habe 2003 als Küchenhilfe in einem Bistro gearbeitet. Manche Schichten gingen bis ein Uhr Nachts und ich musste alle anfallenden Arbeiten alleine erledigen. Eine Woche bevor ich die Psychose bekam spürte ich, dass mir die Aufgaben immer schwerer fielen. Ich war sehr erschöpft und gleichzeitig sehr erregt und aufgekratzt. Außerdem fühlte ich eine  Ahnung von Gefahr, die mich in Angst versetzte. Obwohl ich bis zu diesem Zeitpunkt nie harten Alkohol  oder Drogen konsumiert hatte, trank ich in den letzten Tagen vor der Psychose Whiskey und bat eine Freundin um Gras, weil ich schreckliche Angst hatte. Innerhalb weniger Tage veränderte sich mein Denken. Ich sah überall bedeutungsvolle Zeichen und hatte das Gefühl, ich könne Gedanken lesen. Ich hatte große Angst und Schlafprobleme. Mein jetziger Mann und damaliger Freund bemerkte eines Abends am Telefon meine veränderte Stimmung. Über Umwege und mit Hilfe meiner Schwiegereltern und einer Freundin wurde ich zu einem Psychiater gebracht und von dort direkt in ein Krankenhaus überwiesen. Der damalige Psychiater diagnostizierte eine Schizophrenie.
 

Warum hast du dich entschieden, nun Gesicht zu zeigen?

Ich merkte, dass ein offenerer Umgang mir viel besser tut, als ich lange Zeit angenommen hatte.

Seit ich weniger Medikamente nehme und dadurch viel mehr wahrnehme ist es erst notwendig und dann zu einem Bedürfnis geworden, zu sagen, was ich fühle und sehe und mit anderen Menschen darüber zu reden und mir auch ihre Geschichten anzuhören.

Außerdem leben wir in einer Zeit, in der Menschen, die sich lange verstecken mussten, endlich sprechen dürfen bzw. gehört werden. Die Empowerment-Bewegungung, die Menschen jeglicher Hautfarbe, Sexualität, Glaubensrichtung oder anderer Kategorisierungen befähigt, mit Stolz zu sich zu stehen, hat mich sehr inspiriert.

 

Wie hat dein Umfeld reagiert, als es von deiner Krankheit erfahren hat, und welchen Umgang würdest du dir von deinem Umfeld (und der Gesellschaft) in Bezug auf deine Erkrankung wünschen?

Es gab verschiedene Reaktionen: Distanznahme und Hilflosigkeit überwiegten. Es gab aber auch ein bisschen Neugierde und Angst.

Ich wünsche mir, dass Menschen sich (mehr) mit sich und ihren Gefühlen und Ängsten auseinandersetzen. Dadurch können sie lernen, sich selbst zu akzeptieren. Davon können dann psychisch Erkrankte und alle anderen profitieren.
Psychische Erkrankungen sind unsichtbar. Deshalb rieten mir viele Menschen, darunter Freund*innen und Familie, die mir meine Schwächen nicht glaubten, arbeiten zu gehen, um wieder klar zu kommen. Ich hatte jahrelang das Gefühl, nutzlos zu sein und schämte mich zutiefst. Ich glaubte auch selbst daran, dass ich niemals glücklich werden kann, wenn ich mich nicht beruflich entwickelte.
Ich wünsche mir für die Gesellschaft, dass die Menschen zu ihrer Intuition finden und diese als Quelle des Wissens anerkennen können.

 

Welche Dinge haben dir am meisten geholfen, die Krankheit zu akzeptieren?

Es ist immer noch manchmal schwer für mich, die Krankheit zu akzeptieren, weil ich so viele berufliche Wünsche und Vorstellungen hatte und habe, bei der mir meine Krankheit im Weg steht. Ich merke, dass es mir schlecht geht, wenn ich mich bewerte oder mich mit anderen und ihren Leistungen  vergleiche.
Wenn ich Yoga mache, lerne ich meine Grenzen akzeptieren. Es geht beim Yoga nicht um können und Leistung, sondern um Hingabe, Achtsamkeit und Akzeptanz. Deshalb hilft mir Yoga bei der Akzeptanz meiner Krankheit.

 

Welche Ressourcen nutzt du in Krisensituationen?

Nichts tun und in die Wolken schauen ist für mich das Allerschönste. Mit geliebten Menschen zusammen sein. Spazieren gehen. Ein therapeutisches Gespräch führen. Meine Ängste aufschreiben, Zeichnen, Comics lesen. Draußen sein. Wenn ich einem Frosch oder einem netten Hund begegne oder einen schönen Vogel sehe, dann hebt das meine Stimmung und rettet den Tag!

 

Was möchtest du anderen Betroffenen mit auf den Weg geben?

Erst in den letzten Jahren habe ich eine sehr wichtige Lektion gelernt: Achte auf deine Gefühle! In meinem Fall bedeutete dies, sie erstmal nur wahrzunehmen, dann zu benennen und anschließend zu differenzieren. Das hat sehr viel Mut erfordert, weil ich Angst vor ihnen hatte. Ich hatte Angst in mein Innerstes zu schauen und  ich glaubte  auch nicht daran, dass dort irgendwelche Lösungen verborgen lägen.

Ich glaubte, dass nur andere Menschen mir helfen könnten und zweifelte an der Echtheit meiner Gefühle und Wahrnehmungen. Jetzt schaffe ich es, an mich zu glauben. Anfangs fühlte es sich falsch an, an mich zu glauben, dann habe ich es geschafft meine Selbstzweifel zu ignorieren.
Es ist so unglaublich cool, dass ich mich heute in der Not an mich wenden kann.

Trotzdem möchte ich Menschen, die eine schlechte Zeit haben, raten, sich anderen anzuvertrauen, um Trost zu finden … Nicht unbedingt um eine Lösung zu erhalten, aber um sein Leid anzuerkennen und zu teilen.

 

Was möchtest du anderen Angehörigen mit auf den Weg geben? Wie können sie dir (einerseits) und sich selbst (andererseits) am besten helfen?

Ich fands immer cool, wenn ich einfach dabei sein darf und nichts beitragen muss zu Gesprächen. Wenn ich für mich sein kann, wenn ich das brauche. Wenn man mich meinen Weg einfach gehen lässt und mich unterstützt, indem man mir zuhört. Es ist mir sehr wichtig, dass Freunde und Familie lernen, ihre Grenzen wahrzunehmen und zu kommunizieren. Ich finde es total okay, wenn jemand zu mir sagt: Hey Sandy, ich möchte mich gerade nicht unterhalten. Gibt es vielleicht eine andere Sache, die du tun kannst, damit es dir besser geht bzw. einen anderen Menschen mit dem du reden kannst?

Ich denke, es ist besser, wenn man nicht nur eine Bezugsperson hat. Ich würde auch am liebsten alle meine Probleme mit meinem Mann besprechen, aber das ist zu viel und manchmal traue ich mich auch mit  Freunden über Probleme zu sprechen. Das fühlt sich sehr gut an, sich jemandem anzuvertrauen, wenn man merkt, dass die Person damit gut umgehen kann. Es gibt viel mehr coole Leute als ich dachte.

 

Was macht deinen Charakter aus und welche Eigenschaft schätzt du an dir am meisten?

Ich mag meine Fröhlichkeit und Offenheit. Ich mag meine intellektuelle Neugierde und mein starkes Bedürfnis, Dinge zu hinterfragen und Neues zu lernen. Ich mag es herauszufinden, dass es unterschiedliche Perspektiven gibt, die ich einnehmen kann und die mir helfen. Ich mag meine Ideen und meinen Humor.

Ich mag meine Ehrlichkeit wenn es um gesellschaftliche Konventionen geht.

Sandy hat eine Website: rummsmurmel.jimdofree.com