Da soll Frau nicht ver-rückt werden!

„Meine Oma hat ganz allein vier Kinder durchgebracht und ist arbeiten gegangen!“

Klasse Frau, die Oma des Kollegen oder Nachbarn. Ganz ohne jeden Zweifel. Und wenn er (oder seltener sie) euch davon erzählt, während ihr gerade Familiengeschichten bei einer Tasse Kaffee austauscht, ist das wahrscheinlich nur eine nette Unterhaltung über starke Frauen, die es irgendwie geschafft haben, nicht vollkommen auseinander zu fallen.

Kommt diese Info aber dann, wenn ihr früher aus dem Büro müsst, weil das Kind krank ist oder während ihr abgehetzt Einkaufstüten in die Wohnung tragt, steckt wahrscheinlich mehr dahinter: Eine Botschaft in einem Frequenzbereich, den nur die hören können, die es betrifft.
Ganz tiefe, dunkle und dumpfe Misogynie: Oma war ganz allein. Sie hatte nie Hilfe. Es ging um Leben und Tod. Die Arbeit war nur fürs nackte Überleben. Und Oma hat sich nie beklagt!

Also trägst du den Wasserkasten ein bisschen schneller die Treppe hoch, lässt dir beim Kinderarzt doch wieder das Antibiotikum verschreiben und legst abends noch eine Schicht Remote-Arbeit ein. Das schaffst du schon. Bloß nicht jammern, so schlecht geht es dir ja gar nicht.

Schade ist, dass wir die Oma gar nicht fragen können, ob sie wirklich nicht auseinandergefallen ist, wie viele Nächte sie weinend wach lag und was sie das alles gekostet hat.

Wir leben heute in einer Gesellschaft, die unsere Mütter und Großmütter immer noch vor allem dafür glorifiziert, dass sie in Stille leiden konnten, während die Erzählungen über unsere Väter und Großväter harte Arbeit und schwielige Hände beschreiben.

Es ist noch nicht lange her, als sich die Frauen mit Frauengold betäubten, um den Ansprüchen aus dem Buch über die gute Hausfrau, das bei jeder Eheschließung gleich vom Standesamt mitgereicht wurde, gerecht zu werden.
Lustig ist das nicht. Auch nicht die alten Fernsehwerbungen über die zwei Lebensfragen einer Frau (was ziehe ich an und was soll ich kochen?) und vor allem:
Es hat Spuren hinterlassen.

Überall.

 

Unsere Erziehung und Vorbilder können wir zwar hinterfragen, sie ganz abzulegen ist aber Schwerstarbeit.

Als ich im Grundschulalter mal Ärztin werden wollte, war ein wohlmeinender Rat aus der Verwandtschaft, dass Mädchen doch „Krankenschwester“ würden. Den Arzt könne ich ja dann heiraten.
Studieren? Willst du wirklich so viel Zeit und Energie in einen Beruf stecken, den du ja doch aufgibst, sobald du Mutter wirst.
Ganz schön schlau. Für ein Mädchen.

Es wundert nicht, dass vor allem Frauen in der Berufswelt unter dem Imposter-Syndrom leiden. Jahrelange Übung.
Wer aber ständig Angst hat, dass eine vermeintliche Glückssträhne reißt oder ein Schwindel auffliegt, stellt wenig Ansprüche, verhandelt zurückhaltender und erobert nie die Vorstandsetagen. Gleichzeitig nagt die Unsicherheit an der Seele und die Jagd nach Perfektion laugt aus.

Spätestens Mütter scheinen gar nichts mehr richtig machen zu können. Wenn es um Mütter geht, erreichen die misogynen Untertöne schon während der Schwangerschaft den deutlich hörbaren Frequenzbereich. Eigentlich sind wir hier aber auch nur sensibler geworden. Vokabeln wie „Karrierefrau“, „Glucke“, „Rabenmutter“, „Fremdbetreuung“ oder ein abfälliges „Selbstverwirklichung“ lassen sich nicht mehr so leicht hinter der Sorge ums Kind verstecken wie noch vor 20 Jahren.
Aber dass wir den Care-Gap jetzt sehen und dass Frauenmagazine über den Mental-Load schreiben, macht die Mehrfachbelastungen noch nicht kleiner.
Und für Alleinerziehende gibt solche gut gemeinten Zuschreibungen ohnehin nicht. Deren Gaps und Loads sind unermesslich.

Selbstzweifel, ständige Angst aufzufliegen und Vielfachbelastungen, aber doch nie genug zu sein, stürzen deutlich mehr Frauen als Männer ins Burnout.
Weil das aber für Frauen zu dramatisch und zu sehr nach Verausgaben und Schlachtfeld klingt, gilt der „Burnout“ immer noch vor allem als Manger- und damit als Männerkrankheit.

Frauen brennen nicht aus, Frauen versagen, beklagen sich und schaffen es nicht, ihre Pflichten zu erfüllen. Für Frauen gibt es die viel zurückhaltendere Belastungsdepression oder schlicht die Anpassungsstörung. Sich nicht an die Umstände, die nun mal so sind, wie sind, anpassen zu können ist der Fehler und nicht etwa die Umstände selbst, die den Zusammenbruch verursachen.

 

„Warum bist du denn so schnippisch? Hast du deine Tage?“

Die meisten Frauen haben das so oder so ähnlich schon mal gehört und, Hand aufs Herz, die meisten Männer auch schon mal so oder so ähnlich gesagt. Was mit viel gutem Willen, wenn schon nicht besorgt, wenigstens verständnisvoll klingen könnte, sendet seine eigentliche Botschaft wieder in einem nicht für alle hörbaren Frequenzbereich.

Als Frauen nicht studieren, nicht wählen und nicht selbstbestimmt leben durften, wurde dies vom Patriarchat unter anderem damit begründet, dass sie nun mal von Natur aus zu emotional seien. Für Politik, Medizin, Juristerei und eigentlich für alles, was irgendwie wichtig ist, brauchte man(n) einen kühlen Kopf und eine dauerhaft berechenbare Gemütsverfassung. Man(n) wollte Männer und dafür brauchte man(n) Argumente.

Und jetzt kommt ein großes Stück Gehirnakrobatik ins Spiel, die sich bis heute hartnäckig hält: Während Frauen also launische und hormongesteuerte Wesen sind, die allzu große Verantwortung lieber an Männer abgeben sollten, tragen sie gleichzeitig bis heute einen großen Teil der Verantwortung für die Triebhaftigkeit der Männer. Tanktops und zu kurze Röcke bei unseren Töchtern lenken unsere Söhne (und die Lehrer!) immer noch vom Unterricht ab.
Nach Übergriffen spielt es immer noch eine Rolle, ob das Opfer betrunken und ihre Kleidung zu aufreizend war.
Und nur am Rande: Auch wenn die Zahl der Teenagerschwangerschaften Dank besserer Aufklärung rückläufig ist, gibt es deutlich weniger Teenager-Väter als Mütter.
Boys will be boys.

Fast jede Frau kennt Grenzüberschreitungen gegen die Selbstbestimmung seit ihrer frühen Jugend. Der schnelle Griff an die Brust, der Ganzkörperrempler im Zug, der klassische „Herrenwitz“.
In Deutschland wird darüber hinaus jede dritte Frau irgendwann in ihrem Leben Opfer von Gewalt. Wenn Frauen also lieber mit einem Bären allein im Wald sein wollen als mit einem Mann, hat das viele gute Gründe.

Die Wahrscheinlichkeit, mindestens einmal im Leben eine PTBS zu entwickeln liegt bei Frauen doppelt so hoch wie bei Männern. Auch Angststörungen werden bei Frauen zweimal so häufig diagnostiziert wie bei Männern.

 

Wir sind schon weit gekommen und haben noch ein gutes Stück vor uns


Zugegeben: Seit der klaglosen Großmutter und der „Hysterie“, die bei Frauen jahrhundertelang wegen so ziemlich jedem abweichenden Verhalten diagnostiziert und die absolut entwürdigend behandelt wurde, haben wir, was die psychische Gesundheit von Frauen betrifft, große Fortschritte gemacht.
Aber auch hier steckt die Gendermedizin noch in den Kinderschuhen. Das ist schlecht für alle. Für die Frauen und für die Männer.

Weil Frauenkörper ganz selbstverständlich ungefragt kommentiert, kritisiert und damit objektifiziert werden, gelten Essstörungen als eine Krankheit von Mädchen und Frauen. Das Patriarchat stellt damit aber den vielen Männern, die gegen Anorexie oder Bulimie kämpfen, ein Bein, marginalisiert ihre wachsende Gruppe und drückt ihnen zusätzlich noch ein großes Stigma auf.

Grundsätzlich müssen Männer erst mal viel Stärke beweisen, ehe sie sich die „Schwäche“ erlauben, um Hilfe zu bitten.
Eine gewisse Aggressivität gilt bei Männern anders als bei Frauen nicht als „zickig“, sondern als „durchsetzungsstark“ und ist damit sogar ein eher erwünschtes Verhalten. Bis die Betroffenen selbst oder ihr nahes Umfeld verstehen, dass Aggression, Gereiztheit und Schlaflosigkeit Symptome für eine Depression sind, ist die Erkrankung meistens schon sehr weit fortgeschritten.
Das ist immer der Moment, wo jeder Artikel und jeder Kommentar darauf hinweist, dass bei Dreiviertel aller vollendeten Suizide Männer sterben und dass Männer deutlich häufiger Suchtkrankheiten entwickeln als Frauen.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Frauen einen signifikant höheren Anteil an den Suizidversuchen tragen, dass autoaggressives Verhalten, wie Ritzen zum Beispiel, viel öfter ein Ventil für Mädchen und Frauen ist und dass sie deutlich mehr Klinikbetten nach Medikamentenintoxikation belegen als Männer.

Überhaupt Medikamente: Die Erkenntnis, dass die bei Frauen anders wirken als bei Männern und dass die Gründe dafür sehr viel komplexer sind als die (oft) geringere Körpergröße und das (oft) geringere Gewicht, sickert nur langsam in die Forschung, die Zulassungsverfahren und die Einnahmeempfehlungen.

Unsere betonierten Vorstellungen von genderadäquatem Verhalten betreffen auch im Bereich der psychischen Störungen, Erkrankungen und der Neurodiversitäten schon die Kleinsten.

Jungs sind nun mal wild und zappelig, kognitiv manchmal ein bisschen langsamer und feinmotorisch ungeschickter als die ruhigen, oft sehr verträumten Mädchen, die sich gern in sich zurückziehen.
Bei den Kindern stehen unter Umständen viele frustrierende Schuljahre bevor, bis jemand bei beiden, dem wilden Jungen und dem zurückgezogenen Mädchen, eine AD(H)S-Spektrum-Störung bemerkt.
Vor allem Frauen wissen oft bis ins hohe Erwachsenenalter nicht, dass sie weder zu dumm noch zu undiszipliniert, sondern einfach nur nicht „neurotypisch“ sind und dass sie Kompetenzen entwickeln können, die die vermeintliche Schwäche in Stärke wandeln kann.

Autismus-Spektrums-Störungen werden bei Jungen zwei- bis viermal öfter frühzeitig entdeckt als bei Mädchen.
Mädchen schaffen es besser und länger, ihre Probleme zu maskieren und sind besser darin, ihre „normalen“ Altersgenossen zu imitieren, um ihre andauernde Verwirrung zu verstecken. Ein Mädchen, das auf die Schuhspitzen der Lehrkraft schaut, statt den Blickkontakt zu halten, ist einfach nur schüchtern oder wenn es ganz blöd läuft, sogar auf romantische Jane-Austin-Art „sittsam“.
Ein nicht diagnostizierter Autismus führt bei den Betroffenen aber zu einigem Leid: Das konstante Gefühl der Überforderung und niemals richtig dazu zu gehören, macht sie depressiv, ängstlich und begünstigt die Ausbildung von Zwangsstörungen.
Werden Kinder mit einer unentdeckten Autismus-Spektrums-Störung in der Schule gemobbt, geben Lehrerinnen und Lehrer absurde Tipps, wie „komm doch mal mehr aus dir heraus“, „pass dich besser an die anderen an“ oder „du musst dich einfach mehr zusammenreißen und mehr trauen“, statt sie zu schützen und die Mitschüler*innen über Neurodiversitäten aufzuklären.

 

Was wir also dringend brauchen, ist mehr Feminismus!

Wenn wir uns als gesamte Gesellschaft mit den Diskriminierungen und Nachteilen auseinandersetzen, die sich aus verkrusteten Genderrollen für Frauen und Mädchen, aber auch für Jungen und Männer ergeben, können wir eher darauf vertrauen, im Krankheit- oder Krisenfall die Unterstützung und Hilfe zu bekommen, die wir wirklich brauchen.
Mit mehr Gleichstellung werden Frauen seltener mit Paracetamol nach Hause geschickt, obwohl ihre starken Regelschmerzen auf eine Endometriose zurückzuführen sind.
Mit mehr Gleichberechtigung dürfen Männer öfter weinen und sich eingestehen, dass sie ihre Last allein nicht tragen können.
Mit mehr Gleichberechtigung erkennen wir die Probleme unserer Kinder viel öfter, weil wir sie mehr als individuelle Persönlichkeiten wahrnehmen ohne potentiell problematisches Verhalten als „typisch Jungs“ oder „typisch Mädchen“ abzutun.

Eine Gesellschaft, die strukturelle Probleme nicht nur erkennt und beschreibt, sondern alles daransetzt, sie zu bekämpfen, nimmt es nicht achselzuckend hin, dass Frauen, Mädchen und Kinder physische, sexualisierte, psychische und emotionale Gewalt erleben und darunter ein Leben lang leiden.
Die Erschöpfung und Überforderung, die in den gesellschaftlichen Strukturen angelegt sind, können durch Veränderungen abgemildert werden.

 

Eine wirklich gerechte Gesellschaft ist gut für uns alle.

Viel zu spät sogar für die Oma, wenn wir erkennen, dass es sie mehr Kraft gekostet hat, als sie hatte, sich nie zu beklagen und wenn wir ihr das Versprechen geben können, dass es ihren Enkelinnen besser gehen wird.
Dem Opa, den wir an Sonntagen sturzbetrunken aus der Kneipe zum Mittagessen abholen mussten, können wir auch heute noch versprechen, dass sein Enkel bessere Wege als Korn finden wird.

Wenn wir sein dürfen, wer wir sind und uns gegenseitig sehen können, wie wir sind, können wir einander mit mehr Respekt und Liebe begegnen.
Das alles braucht manchmal echt einigen Mut. Aber dafür sind wir ja da.

 

 

Text: Dorothée Sonntag

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