Annehmen: Anders ist gut.

Viele Grenzgänger entscheiden sich dazu, Grenzgänger zu werden. Aus den unterschiedlichsten Beweggründen.

Ich wurde quasi über Nacht unfreiwillig zum Grenzgänger, einer der plötzlich auf nur noch sehr schmalem Grat unterwegs war, mit dem starken Wunsch, irgendwie zu überleben.

Denn 2015 erkrankte die jüngere unserer beiden Töchter so massiv an einer Magersucht, dass wir über mehrere Monate nicht mehr wußten, ob wir sie jemals wieder in unsere Arme zurückbekommen werden.

Was, so denke ich jedenfalls, alle Grenzgänger gemeinsam haben, ist die Grenzerfahrung. Das Bewusstwerden der persönlichen, eigenen Grenzen. An diese meine persönliche Grenze bin ich gelangt, als ich dann in eine Erschöpfungsdepression gefallen bin und zum ersten Mal mit einer Hilflosigkeit und Verzweiflung konfrontiert war, die ich so nicht kannte. Das Gefühl meiner Familie, die ebenfalls krank wurde, nicht mehr helfen zu können und selbst keine Perspektive mehr zu sehen, war unerträglich.

Was ich dann im Laufe der nächsten Jahre mit meiner Familie und den Expert*innen gemeinsam erleben durfte, hat dazu geführt, mein Leben fundamental zu verändern. Denn im Miteinander waren wir als Familie in der Lage, diese so schwere Ausnahmesituation nicht nur zu meistern, sondern als Familie stärker aus dem Prozess herauszukommen, als wir in diesen hineingegangen sind. Auf jeden einzelnen kam es an; auf die Eltern, Geschwister und die Expert*innen. Allein in der Familie kann man so eine Krise nicht überwinden, aber eben auch nicht ohne Familie.

 

Ich habe damals in der Krise entschieden, sollte unsere Tochter überleben und wir als Familie, dann werde ich mein Leben verändern. 

Ich bin nun seit 2022 Mutmacher und versuche in meiner täglichen Arbeit im Verein Mutmachleute e.V, diese unsere Erfahrung mit Menschen zu teilen, die ebenso unfreiwillig durch eine psychische Erkrankung zu Grenzgängern geworden sind, ihnen so eine Perspektive zu geben, nicht zu verzweifeln, sondern mit Unterstützung der Expert*innen wieder auf breitere, stabilere Lebenswege zurückzufinden.

Die wichtigste Voraussetzung dafür ist es, als Eltern und Geschwister die Krankheit als Krankheit anzuerkennen und nicht dagegen zu arbeiten, durch Verdrängen oder zu glauben, es handle sich um eine pubertäre Erscheinung, um so der Tabuisierung der Krankheit in der eigenen Familie ein Ende zu setzen. Alles andere ist fatal und führt in aller Regel zu Chronifizierungseffekten, im schlimmsten Fall zum Tod. Eine zweite wichtige Voraussetzung ist der offene Umgang in der erweiterten Familie, im Freundes – und Bekanntenkreis, und im direkten Arbeits- oder Schulumfeld.

Und eine wichtige Botschaft zum Schluß: habt als Eltern keine Angst davor, als Eltern oder Familie ausgegrenzt zu werden, denn proaktiv mit den Expert*innen, den Geschwistern und dem betroffenen Kind zusammen wird es eine Lösung geben und damit wieder ein sinnerfülltes Leben für alle Beteiligten.

Man trifft im Grunde auf drei Situationen im offenen Umgang mit seinem Umfeld:

Die, die sich damit nicht auseinandersetzen wollen. Die, die keine Erfahrung im Umgang mit psychischen Erkrankungen haben, aber zuhören. Und die, die sagen: Willkommen im Club.

Ich weiß, wovon ich spreche.

Mit mutmachenden Grüßen

Andreas