Profilbild von Andreas Crüsemann, Thema Depression

Depressionen: „Spiro, ergo sum! Ich atme, also bin ich!“

Betroffener: Andreas R. Crüsemann
Jahrgang: 1966
Diagnose: Schwere depressive Episode
Therapie: stationär: psychosomatische Klinik, ambulant: Tagesklinik, Gruppentherapie, Antidepressiva
Ressourcen: Atemtherapie, Spaziergänge mit Hund, Garten, Haiku-Gedichte und Romane schreiben

 

Wie und wann hast du von deiner Störung erfahren?

Im November 2014 hatte ich einen Nervenzusammenbruch. Dem voraus gingen ein schwerer Arbeitsunfall im April 2013, mehrere Augenoperationen und monatelange partielle Blindheit. Zwei Wiedereingliederungen in einen visuell anspruchsvollen Beruf, den ich ausübte, waren erfolglos. Die erneute Diagnose von Problemen mit meinen Augen und die zeitgleiche Erkenntnis, dass eine Fortführung meines Berufes endgültig nicht mehr möglich sein würde, führten zum Nervenzusammenbruch. Existenzängste infolgedessen gingen direkt einher mit starken depressiven Symptomen einschließlich in hohem Maße somatischer Reaktionen und Suizidgedanken.

 

Warum hast du dich entschieden, nun Gesicht zu zeigen?

Ich habe bereits im Juni 2018 in Form einer Rede vor 120 Gästen des Essener Bündnisses gegen Depression sowie in der Presse Gesicht gezeigt, ebenso bei verschiedenen anderen kleineren Veranstaltungen. Die Entscheidung, offensiv mit meiner Depression umzugehen, hatte sich schon ein Jahr zuvor ergeben. Ich war Ehrengast auf einer Abschlussveranstaltung des Prof.-Eggers-Lehrgangs der VHS in Essen; ein Lehrgang für Jugendliche mit psychischer Erkrankung ohne Schulabschluss. Die emotionale Distanz zu den Jugendlichen war mir unerträglich. Ich stellte mich mit Anzug und Krawatte dazu und erzählte von meinen psychischen Problemen. Der Bann war danach auf beiden Seiten gebrochen; Gäste und Absolventen mischten sich und führten zwanglose Gespräche. Ein Vorstandsmitglied des Bündnisses gegen Depression sprach mich danach an, ob ich das nicht auch bei anderen Gelegenheiten machen könne.¹

 

Wie hat dein Umfeld reagiert, als es von deiner Krankheit erfahren hat, und welchen Umgang würdest du dir von deinem Umfeld in Bezug auf deine Störung wünschen?

Mein engeres Umfeld hat mit Verständnis und Unterstützung reagiert. Meine Familie war liebe- und rücksichtsvoll. Meine wahren Freunde haben sich gekümmert. Aber es haben sich auch Freunde von mir abgewendet – worüber ich im Nachhinein sehr froh bin, weil das offenbar keine echte Freundschaften waren.

Mein Arbeitgeber war absolut loyal und hat sogar mit mir nach der Depression eine erneute Wiedereingliederung versucht, die aber gescheitert ist. Derzeit mache ich erneut eine rezidivierende Phase durch. Nach einem Jahr Aufenthalt in einem Berufsförderungswerk für Sehbehinderte habe ich leider in einem neuen Job – in Teilzeit auf sehr viel niedrigerem Niveau – nicht Fuß fassen können. Meine Augen verschlechtern sich leider bei intensiver Bildschirmarbeit weiter, auch wenn diese nur Teilzeit ist.

Starke Reaktionen aus dem weiteren Umfeld kamen aufgrund eines Presseartikels „Ja, ich bin depressiv. Neustart nach der Erkrankung“. Ich habe von teilweise fremden Leuten sehr positives Feedback erhalten. Entfernte Bekannte kontaktierten mich. Sie hatten nichts von meiner Depression gewusst und sprachen mir Mut zu. Andere Betroffene meldeten sich und schrieben, dass mein Coming-Out ihnen Mut machen würde und bedankten sich. Das war für mich überraschend positiv. Es gab aber auch negatives Feedback: Ehemalige Mitpatienten aus der Klinik reagierten teilweise verärgert und ablehnend, als ich ihnen den Link mit dem Presseclip zusandte. Ich muss vermuten, dass es ihnen nicht so gut ging wie mir in dieser Phase und sie waren vielleicht einfach traurig, dass sie noch voll in ihrer Depression steckten.

 

Welche Dinge haben dir am meisten geholfen, die Krankheit zu akzeptieren?

Ich habe nach meinem Unfall eine dreijährige Ausbildung als Atemtherapeut begonnen. Dies ist eine Arbeit, die ich auch blind hätte machen können. Die Atemarbeit war für mich absolut hilfreich in der depressiven Episode – ohne die erlernten Übungen hätte ich das nicht geschafft, glaube ich. Die Ausbildung konnte ich beenden. Die Übungen nutze ich im Alltag für mich, sobald ich Symptome bemerke. Aktuell helfen sie mir in einer erneuten depressiven Phase, diese zu überwinden. Ich helfe anderen Betroffenen als praktizierender Atemtherapeut, indem ich ihnen solche Übungen zeige.

 

Welche Ressourcen nutzt du in Krisensituationen?

Wie oben bereits erwähnt, nutze ich diverse Atemübungen. Konkret sind dies Übungen, die eher auf körperlicher Ebene und in Bewegung stattfinden (sog. Middendorf-Methode: bewusst zugelassener Atem). Des Weiteren viel Gartenarbeit und Spaziergänge mit meinem Hund.

 

Was möchtest du anderen Betroffenen mit auf den Weg geben?

„Reden ist Silber, Schweigen ist Blech!“ Sucht euch Hilfe und redet darüber. Zu viel reden und alles dann zerreden ist sicherlich auch nicht die Lösung. Aber unter dem Strich geht es nur über den Kontakt und die Kommunikation mit anderen Menschen. Und dabei immer in Bewegung bleiben! Körperbetonte und nicht zu meditative Therapieformen sind aus meiner Sicht sehr hilfreich!

 

Was möchtest du anderen Angehörigen mit auf den Weg geben? Wie können sie dir
(einerseits) und sich selbst (andererseits) am besten helfen?

Folgende Regeln beherzigen:
1. „Ratschläge sind auch Schläge!“: Bitte seid einfach nur da, wenn ihr gefragt oder gebraucht werdet! Viele Ratschläge, die gut gemeint sind, setzen Betroffene unter Druck und das ist geradewegs das Falsche für sie.

2. „Abstand wahren!“: Drängt euch nicht auf und werdet nicht übergriffig. Der/die Betroffene meldet sich, wenn er/sie Liebe oder Hilfe braucht. Aber seid immer in Sichtweite, und natürlich müsst ihr intervenieren, wenn Gefahr für Leib und Leben erkennbar ist. Versucht, euren Blick dafür zu schärfen und die „normale Depression“ von einem akuten Problem unterscheiden zu lernen.

3. „Seid echt, ehrlich und authentisch!“: Betroffene mögen gedämpft wirken und sind es durch Medikamente vielleicht auch faktisch. Aber sie haben eine gute Wahrnehmung – u.U. sogar eine absolut geschärfte – dafür, wenn ihnen Theater vorgespielt wird. Übertriebene Rücksichtnahme ist eher kontraproduktiv.

 

Was macht deinen Charakter aus und welche Eigenschaft schätzt du an dir am meisten?

Ich bin ehrlich, offen, engagiert, eloquent und überzeugend. In meiner Offenheit bin ich manchmal vielleicht sogar übergriffig. Ich bin ein Gutmensch und werde deshalb oft von der Welt enttäuscht. Ich rede eher zu viel als zu wenig. Ich bin offensiv depressiv.

 

Andreas R. Crüsemann ist auch als Atempädagoge im Herzen des Ruhrgebiets in der Stadt Essen tätig.
Auch auf Facebook findet man Andreas R. Crüsemann.

 

¹Andreas Rede und die Reaktionen seitens der Presse könnt ihr hier sehen:

Youtube – Offensiv Depressiv – eine Keynote zum 10jährigen Festakt des Essener Bündnisses gegen Depression
WAZ Artikel: „Wie ein Essener Manager aus dem Leben fiel – und zurückfand“