Wenn uns die Mundschutzpflicht die Luft raubt – Interview mit Christian Zottl von der Deutschen Angst Hilfe e.V.
Mutmachleute-Team: Christian, du arbeitest für die Deutsche Angst-Hilfe e.V. und hast mit Menschen zu tun, die unter Ängsten und Panikattacken leiden. Für Betroffene sind vermeintlich einfache und selbstverständliche Tätigkeiten, wie z.B. das Fahren in geschlossenen U-Bahnen, nur schwer erträglich.
Momentan sind wir alle, Betroffene und Nicht-Betroffene, einer ganz besonderen Situation ausgesetzt. Wir sorgen uns um unsere Gesundheit und die unserer Lieben, wir haben Zukunftsängste und wir leiden unter eingeschränkten sozialen Möglichkeiten. Seit dem 27. April besteht eine Mundschutzpflicht in Geschäften und öffentlichen Verkehrsmitteln um das Coronavirus einzudämmen. Was bedeutet das für Betroffene von Angststörungen? Welche konkreten Ängste haben Betroffene beim Tragen eines solchen Mundschutzes?
Christian Zottl: Es ist eine echte Ausnahmesituation und ich habe schon die Erfahrung gemacht, dass das, was mir vorher als selbstverständlich erschien, in diesen Zeiten nicht weiter gültig sein muss. Zum Beispiel habe ich Menschen mit Generalisierter Angststörung getroffen, die sich vor der Corona-Krise über quasi Alles maximale Sorgen gemacht haben und nun aber die „Ruhe in Person“ geworden sind, während andere – bei denen ich es nicht erwartet hätte – völlig „ausflippen“. Ich denke also, dass sich auch die Mundschutzpflicht individuell sehr unterschiedlich auswirken kann. Zum Beispiel könnte ich mir vorstellen, dass bei manchem Sozialphobiker (auch dem weiblichen Pendant) die Maske gar nicht so schlecht ankommt. Denn dem ist es unter Umständen sogar angenehm, sich in der Öffentlichkeit hinter seiner Maske ein Stück weit verstecken zu können. Natürlich hilft ihm die Maske letztlich nicht bei seiner Phobie, denn dafür ist es notwendig sich den Ängsten bewusst zu stellen. Das Tragen eines Mundschutzes würde in diesem Fall also eher die Vermeidungstendenzen eines Betroffenen unterstützen. Bei Menschen mit hypochondrischen Ängsten könnte die Maskenpflicht ebenfalls durchaus beruhigend wirken, denn die haben (wie vermutlich die Mehrheit der Bevölkerung) dann schlicht weniger Angst, sich anzustecken (natürlich nur, wenn auch alle anderen Masken tragen). Für die Gruppe der Agoraphobiker und Menschen mit Panikattacken (kommt häufig gemeinsam vor) ist das Maskentragen problematischer zu beurteilen. Agoraphobie zeichnet sich u.a. durch Angst vor engen Räumen oder Situationen aus, aus denen man nicht fliehen kann. Häufig lösen diese dann bei den Betroffenen Panikattacken aus (und umgekehrt). Panikattacken wiederrum sind mit starken, höchst unangenehmen und beängstigenden körperlichen Symptomen verbunden, wie zum Beispiel Herzrasen und Atemnot, die dann wiederrum Todesangst auslösen können. Das beklemmende Gefühl mit der Maske in der Öffentlichkeit, in womöglich eh schon ängstigenden Situationen (U-Bahn etc.) zu sein, die Maske, die ich nicht abnehmen darf, durch die ich vermute, schlechter Luft zu bekommen, all das ist für diese Menschen ein echtes Problem und könnte zu zusätzlichen Panikattacken und damit verbunden weiteren Einschränkungen und Isolation führen! Insbesondere die „Angst vor der Angst“ spielt dann eine wesentliche Rolle. Aus Angst vor der Situation, wird diese vermieden. Die Menschen trauen sich dann nicht mehr vor die Tür, selbst wenn die Ausgangsbeschränkungen schrittweise gelockert werden. Aber auch hier möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass ich persönlich mehrere Agoraphobiker kenne, die schon lange vor der Maskenpflicht diese verwendet haben. Ich denke es ist wichtig sich dieser Situation schrittweise zu stellen, ggf. auch in professioneller Begleitung, mit Unterstützung einer Selbsthilfegruppe oder von Freunden und Verwandten.
Mutmachleute-Team: Ich kann mir vorstellen, dass Betroffene unter der Angst leiden, keine Luft mehr unter einem Mundschutz zu bekommen. Diese Angst ist unbegründet, sofern die Maske locker sitzt und nicht zu lange getragen wird. Viele fragen sich, ob der Mundschutz dann auch ausreichend Schutz bietet, wenn er nicht eng anliegt. Hast du Tipps für das Tragen eines Mundschutzes, die ein weniger einengendes Gefühl hervorrufen und dennoch Schutz bieten?
Christian Zottl: Ehrlich gesagt habe ich noch gar keine Erfahrung mit dem Tragen der Maske. Wir lassen uns gerade welche von meinem Schwiegervater nähen und per Post zuschicken. Ich bin sehr gespannt, wie dass dann in der Praxis wird. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass es für Menschen, die das Tragen einer Maske als beängstigend erleben, hilfreich ist, diese Maske ganz bewusst selbst herzustellen oder auszusuchen. Dann habe ich schon weniger das Gefühl der Situation ausgeliefert zu sein, sondern kann diese aktiv mitgestalten.
Mutmachleute-Team: Würdest du Betroffenen raten, sich ihrer Angst zu stellen, und vielleicht das Tragen schon zu Hause zu „üben“ ? Oder sollte das Tragen, wenn denn möglich, vermieden werden, da es sich ja hoffentlich um einen vorübergehenden Zustand handelt? Das würde dann bedeuten, dass Betroffene das Fahren in öffentlichen Verkehrsmittel vermeiden und Freunde bitten, die Einkäufe zu erledigen bis die Pflicht wieder aufgehoben ist.
Christian Zottl: Wie gesagt, es lohnt sich eigentlich fast immer, sich den Ängsten und damit verbundenen Situationen bewusst zu stellen, solange die realen Gefahren klar eingegrenzt werden können. Die meisten Panikpatienten haben nach einer Weile (leider oft schmerzhaft) gelernt: „Die Panikattacke ist ein furchtbarer Zustand, aber sie bringt mich nicht um. Ich werde daran nicht sterben!“. Ich weiß aus vielen Gesprächen, dass das ein schwerer Prozess ist, mit vielen Höhen und Tiefen. Aber wenn diese Gewissheit reift, verlieren die Panikattacken auch ein Stück weit ihren Schrecken. Die Dynamik, die Intensität der Attacken lässt nach. Auch wenn es sich vielleicht nur um einen vorübergehenden Zustand handeln sollte, würde ich definitiv dazu raten, sich mit diesem offensiv auseinanderzusetzen. Im Zweifel – ebenfalls schon gesagt – mit Unterstützung von Ärzten/Psychotherapeuten, Selbsthilfegruppen oder guten Freunden sowie Verwandten. Mit Mutmachleuten eben!
Mutmachleute-Team: Auch der Anblick einer solchen Schutzmaske, vor allem, wenn es sich um eine typische Arztmaske handelt, kann sehr beängstigend sein. Kann es daher hilfreich sein, wenn man selbst genähte freundliche Masken trägt oder einen bunten Schal nutzt?
Christian Zottl: Ja, mit Sicherheit! Unsere visuelle Wahrnehmung hat großen Einfluss auf unser Wohlbefinden und die Interpretation von Situationen. Ich habe da schon sehr nette und auch lustige Varianten gesehen. Kreativität und Humor sind auch oft der Schlüssel zu einem konstruktiven Umgang mit unseren Ängsten (und überhaupt).
Mutmachleute-Team: Hast du konkrete Tipps, die bei einer Panikattacke, die wegen des Tragens einer Maske entsteht, hilfreich sein können?
Da helfen die gleichen Verhaltensweisen wie auch ohne Maske (eine kleine Auswahl aus der Auflistung von https://www.angstselbsthilfe.de/angststoerungen/hilfe-zur-selbsthilfe:
- Man kann auch mit Maske, bei einer beginnenden Panikattacke Atemtechniken, verwenden, insbesondere wenn man die bereits geübt ist!
- Bleiben Sie bei einer akuten Panikattacke nicht ruhig, sondern bewegen Sie sich!
- Beobachten Sie bei einer Panikattacke nicht den Körper, sondern die Umgebung!
- Bleiben Sie bei einer Panikattacke im Hier und Jetzt, ohne negative Erwartungen!
Mutmachleute-Team: Und zuletzt: bitte mach uns allen, und vor allem Betroffenen von Angststörungen ein bisschen Mut!
Christian Zottl: Die Erfahrungen von unzähligen Menschen bei der Deutschen Angst-Hilfe e.V. zeigen, Krisen bieten immer auch die Chance für konstruktive Veränderungen. Ich habe früher den Begriff der Störung sehr negativ wahrgenommen, so nach dem Schulhofmotto: „Ey, bist Du gestört, oder was?“
Mittlerweile sehe ich diese Störung als DIE Chance an, aus den (ggf. auch ungesunden) Routinen und Mustern hinausgeworfen zu werden und damit den Blick über den Tellerrand überhaupt erst zu ermöglichen. Viele werden gerade am Tiefpunkt ihrer (psychischen) Krise auf ganz zentrale Themen und Fragen ihres Lebens stoßen: Was und wer ist mir wirklich wichtig? Was und wer tut mir gut? Was macht mich glücklich und zufrieden? Wer möchte ich sein, wenn ich als 90-jähriger zurückblicke? Was kann ICH dafür tun, damit sich wirklich etwas zum Besseren verändert? Wer kann mir dabei helfen?
Nur weil ich mir diese Fragen stelle, heißt das nicht, dass es auch einfache Antworten darauf gibt. Im Gegenteil, oftmals sind diese mit schmerzhaften Veränderungen, mit Verzicht, mit Konflikten uvm. verbunden. Deshalb neigen wir teilweise dazu, uns diesen essentiellen Fragen über lange Zeit lieber nicht zu stellen und richten uns in einer zweifelhaften Komfortzone ein. Das spielt meiner Meinung nach bei psychischen Erkrankungen eine wesentliche Rolle und wirkt aber auf gesellschaftlich-politischer Ebene sehr ähnlich.
Diese aktuelle Krise, diese massive Störung, auf individueller und gesellschaftlicher Ebene, kann ein Motor für weitreichende positive Veränderungen und Erneuerungen sein, wenn WIR –jeder für sich und wir alle gemeinsam – diese Chance ergreifen und konstruktiv nutzen, frei nach unserem Motto: Angst ist eine Chance!
Die Mutmachleute danken Christian Zottl von der Deutschen Angst-Hilfe e.V. für das mutmachende Interview!