Autismus: Vernetzen! Laut werden! Dem Bauchgefühl und sich selbst immer treu bleiben!

Ich heiße Liliana, bin 1978 in NRW geboren und aufgewachsen, 2009 nach Bayern gezogen und habe drei Kinder im Alter zwischen 8 und 13 Jahren und einen liebevollen Ehemann. Mein Ältester ist im Autismus Spektrum, meine Mittlere hat eine Rechtschreibschwäche und mein Jüngster steht im Verdacht, AD(H)S zu haben. Selber habe ich eine PTBS mit depressiven Phasen und bin hochsensibel.

 
 

Kannst du uns etwas über deine Erfahrungen mit der Diagnose und den ersten Anzeichen von Autismus bei deinem Kind erzählen?

Mein Sohn Vincent war schon als Baby sehr auffällig. Er wollte nie gestillt werden und wehrte sich beim Anziehen, Wickeln und Baden sehr. Sofern er in seinem Bettchen oder auf der Krabbeldecke lag und nicht auf dem Arm war, wurde er still und beobachtete seine Umgebung. Ich hatte als Mama wirklich oft den Gedanken, dass mein Kind mich nicht liebt oder dass ich als Mama versagt habe.
Ich teilte das auch oft beim Kinderarzt mit, aber da wurde es als „Phase“ abgetan und ich sollte mir keine Sorgen machen. Alles an dem Kind sei prima gewachsen und er strotzt vor Gesundheit.
In der Krippe, da war er 2 Jahre alt, sprach er noch nicht. Er lautierte und plapperte eigentlich nur alles nach, was man sagte. Er wurde dort zusammen mit der kleinen Schwester (16 Monate jünger) in der selben Gruppe angemeldet und eingewöhnt. Dort war er gut angekommen und fühlte sich in der kleinen Gruppe von 14 Kindern echt wohl. Nur kam dann irgendwann eine Betreuerin zu mir, die mich sehr behutsam darauf aufmerksam machte, dass Vincent „ziemlich Pfeffer im Hintern hat“. Heute weiß ich, dass es der klassische Overload gewesen sein konnte. Auch spielte er eher für sich allein statt in Rollenspiel mit den anderen Kindern. Er war eher für sich und beobachtend, statt bei der Gruppe und er sortierte ständig die Autos in Reih‘ und Glied. Er sei ein wenig auffällig und ich merkte, dass die Betreuerin sich gar nicht traute, aber sie fragte mich dann, ob ich das nicht mal fachärztlich anschauen möchte. Er sei schon arg speziell.
Und bei diesen Worten brachen alle Dämme bei mir und ich saß heulend in der Krippen-Garderobe. Die Betreuerin war peinlich berührt und entschuldigte sich, da sie dachte, sie habe was Falsches gesagt. Doch ich war einfach nur erleichtert!!! Erleichtert darüber, dass ENDLICH auch jemand anderes sah, dass Vincent anders war! Mit der Aussage von der Kita ging ich dann erneut zum Kinderarzt und der überwies uns dann endlich an eine Kinder- und Jugendpsychiatrie in Augsburg.
Da hatte ich dann dank „Vitamin B“ aus NRW über einen Freund (selber Asperger) nur eine Wartezeit von 6 Wochen bis zum ersten Termin statt 9 Monate.
Die Diagnostik wurde mit dem ADOS-Verfahren gemacht und vielen Interviews mit mir, der Kita, dem Kinderarzt und meinem Lebensgefährten (der biologische KV war nicht complient).
So bekam er dann mit 3 Jahren die erste Verdachts-Diagnose „frühkindlicher Autismus“. Im Jahr darauf gingen wir erneut zur Diagnostik und es gab dann schon „dringender Verdacht auf frühkindlichen Autismus“. Daraufhin ließen wir ein Jahr aus, was die Diagnostik anging und er hatte inzwischen auch ohne feste Diagnose einen Schwerbehindertenausweis mit den Angaben 100 GdB und Merkzeichen G,B,H,Rf – bis heute! Kurz nach dem Bescheid gab es auch gleich noch den Pflegegrad3, den er auch heute mit 13 Jahren noch hat.
Mit 5 Jahren, kurz vor der Einschulung, bekam er dann die feste Diagnose „frühkindlicher Autismus mit hohem Funktionsniveau“. Die Diagnose war mir bereits schon Jahre vorher klar, auch wenn es nur ein Verdacht auf den Arztbriefen war. Aber es nun schwarz auf weiß zu lesen, war wie ein Schlag in die Magengrube. Es schmerzte und ich fühlte mich hilflos und irgendwie auch ausgeliefert.
Ich habe viele Jahre als Pflegefachkraft gearbeitet und es war ein großer Teil meiner täglichen Arbeit, Menschen in der häuslichen Pflege durch Anträge zu begleiten, um SBA oder PG zu bekommen. Wäre ich nicht beruflich im Thema, hätte man mir bis heute vermutlich nicht die Hilfen oder Möglichkeiten genannt! Das hat mich echt wütend gemacht. Ich hab seit meinem Weg durch die Diagnostik schon oft darüber in Foren oder bei anderen Eltern schon geholfen mit Erfahrungen oder bürokratischen Hürden.
 

Wie hat sich das tägliche Leben für deine Familie seit der Diagnose verändert, und welche Herausforderungen musstet ihr bewältigen?

In meinem familiären Umfeld, ganz speziell in den Augen meiner Mutter, war ich die inkonsequente Mutter, die ihr Kind nicht im Griff hat. Mein Vater war der einzige Mensch, der dem Thema Entwicklungsstörung/Autismus Spektrum offen gegenübergestellt war. Leider verstarb er 2015, als Vincent 4 Jahre alt war. Seither ist auch kein Kontakt mehr zum Elternhaus oder der restlichen Familie. Freunde habe ich durch eine toxische Beziehung mit Vincents biologischen KV auch keine mehr gehabt, aber das ist eine andere Geschichte. Es endete sehr arg mit einem erweiterten Suizid 2014.
 

Welche Unterstützungs- und Therapiemöglichkeiten habt ihr in Anspruch genommen, und welche haben sich als besonders hilfreich erwiesen?

Wie ich oben schon erzählte, habe ich den ganzen Mist alleine zusammensuchen und beantragen müssen. Ich denke, es wird Familien und Betroffenen immer schwerer gemacht, Hilfe und Förderung zu bekommen. Manchmal kommt einem das Gefühl, dass es extra erschwert wird, weil es ja auch immer um Geld und Kostenträger geht.

Vincent hat nur lautiert und gebrabbelt bis er 5 Jahre alt war, keiner sagte was dazu oder gab den Hinweis, mal eine Logopädie aufzusuchen. Tipps zur Sprachentwicklung und zum Sprachverständnis gab mir zufällig die Freundin meines guten Freundes in Krefeld über das Telefon, weil sie gerade hörte, dass ich meinem Freund mein Herz ausschüttete. Es war reiner Zufall, dass seine neue Freundin eine Logopädin mit eigener Praxis war, die mir telefonisch über 600km Entfernung mal eben ihre Hilfe anbot und unser Leben positiv veränderte! Es waren eigentlich nur zwei Tipps, die sie mir gab und Vincent sprach mit 6 Jahren wie ein Kind mit 13 Jahren.
Mir hat auch meine berufliche Erfahrung geholfen und eine nette Dame beim MDK, die meist den Pflegegrad-Antrag bei Kindern bearbeitet! Ich bin Pflegefachraft (Altenpflege/ SAPV) in einem mobilen Pflegedienst gewesen. Und das war mein Joker!
Ich habe auf eigene Faust den Platz im Kindergarten in einer i-Gruppe beantragt, noch bevor er den PG oder den SBA bekam. Ich war einfach beharrlich und „nervig“, um an mein Ziel zu kommen. Das raubt Energie. Auch heute noch und ich befinde mich mittlerweile im „Mama-Burnout“ und habe Schwierigkeiten mit dem Vertrauen in die heutige Menschheit.

Ich vertraue meinem Instinkt und Bauchgefühl – auch das nenne ich meine Stärke und es half mir, das Richtige für meinen Sohn zu erreichen.

 

Wie gehst du mit Vorurteilen und Missverständnissen in Bezug auf Autismus um, sowohl innerhalb der Familie als auch in der Gesellschaft?

Vorurteile werden aus der Welt geräumt, indem ich erkläre und aufkläre. Ich bin immer offen gegenüber Fragenden. Ich nehme da auch kein Blatt vor den Mund. Ich bin auch sehr offensiv: ich weise Grenzen auf, wenn ich merke, dass mein Gegenüber beleidigend wird oder anfängt zu diskriminieren (großes Thema Schule und „Nixklusion“). Lehrkräfte haben einfach keinen Schimmer von Neurodiversität! Denn daraus resultiert Diskriminierung und Unverständnis! Das macht mich oft wütend und ohnmächtig.

Gesellschaftlich mache ich auf Stereotypen und Skills im Bereich Hochsensibilität und Autismus aufmerksam. Ich selbst bin hochsensibel und leide an einer PTBS und Depression und habe Schwierigkeiten mit bestimmten Reizen (viele Menschen, Supermärkte, Lautstärke, durcheinander redende Menschen, bestimmte Frequenzen wie Stromleitungen oder hohes Piepsen einer Heizung, etc.), weswegen ich vermutlich so gut meinen Sohn verstehen und lesen kann. Ob ich auch im Spektrum bin? Möglich. Ich war auch schon irgendwie immer „gegen den Strom“ und anders wie andere.. Ich war als Kind auch immer das Opfer von Diskriminierung, Mobbing und Ausgrenzung. Vielleicht bin ich deswegen so unnachgiebig, was meine drei Kinder angeht.
Zur Familie habe ich keinen Kontakt mehr seit 2015. Ich habe jedoch noch eine liebe Schwiegermutter, die aber an der Ostsee lebt und nicht oft bei uns ist. Der telefonische Kontakt ist aber sehr liebevoll und harmonisch und sie ist auch sehr interessiert daran, die Kinder gleich und doch individuell auf deren Bedürfnisse zu behandeln Sie geht sehr auf uns und die Besonderheiten in unserer sehr strukturierten Familie ein.
 

Was würdest du anderen Eltern mit auf ihren Weg geben, die ebenfalls ein Kind mit Autismus haben?

Vernetzen! Laut werden! Dem Bauchgefühl und sich selbst immer treu bleiben! Immer! Niemals abwimmeln lassen! Niemand muss allein da durch! Ich hätte mir diese Worte im Sommer 2011 sehr gewünscht!
Vielen Dank für dieses Interview. Ich würde so gern viel mehr erreichen mit meinen Worten, gerade weil man sich so alleine fühlt in diesem Inklusions-Wahnsinn!

Meine ganze Geschichte kann man auch gerne bzgl. Diagnostik und Depressionen und meinen Weg daraus auf meiner Homepage lesen.