Borderline. Der Weg aus dem Leid führt mitten durch es hindurch.

Betroffene: Annegret Corsing
Jahrgang: 1979
Diagnosen: Emotional-Instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ
Therapien: Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, DBT, Schematherapie
Ressourcen: Lesen, Kochen/Backen, Reisen

 

Wie und wann hast du von deiner Störung erfahren?

Im Spätsommer 2006 ging es mir sehr schlecht und ich hatte einen Verdacht, bin deshalb von mir aus zu einer 14-tägigen Diagnostik-Phase in eine Klinik gegangen. Dort bekam ich dann die Diagnose mit der Empfehlung für eine ambulante Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) mit Skills-Training. Ich war damals nicht schockiert sondern eher dankbar, dass ich endlich wusste, welchen Weg ich konkret einschlagen kann.

 

Warum hast du dich entschieden, nun Gesicht zu zeigen?

Ich zeige mich seit 2016 offen mit der Diagnose, ganz besonders deshalb, weil es genau das ist: eine Diagnose.

Es gehört(e) zu mir, aber das bin ich nicht nur. Außerdem habe ich die Störung für mich selbst nachhaltig überwunden. Das heißt, ich leide heute nicht mehr darunter und würde die Diagnose wohl heute auch nicht mehr bekommen. Ich berichte über meinen Weg als Expertin aus Erfahrung und hoffe, dass ich damit anderen Betroffenen und Angehörigen Mut machen kann. Es ist ein steiniger, sehr schwerer Weg gewesen – doch ich bin daran gewachsen.

 

Wie hat dein Umfeld reagiert, als es von deiner Krankheit erfahren hat, und welchen Umgang würdest du dir von deinem Umfeld in Bezug auf deine Störung wünschen?

Ich weiß, dass das Bild von Borderline noch immer stark stigmatisiert ist. Mein Umfeld hatte schon jahrelang meine Probleme mitbekommen und ich denke es war keine große Überraschung. Allerdings habe ich es auch nicht an die große Glocke gehängt und nur mit sehr persönlichen Kontakten geteilt. Nur in Beziehungen hat es immer wieder ordentlich gekracht und sie haben nie lange gehalten.
 
Wenn ich heute manchmal jemanden über eine Ex-Beziehung reden höre und dann am Ende etwas abwertend die Worte „… war eben Borderliner“ fallen, dann wünsche ich mir, dass die Menschen sich und ihre Beziehungen besser reflektieren würden. Denn einerseits bin ich der Ansicht, wir (jeder) ziehen genau die Menschen in unser Leben, die wir gerade „brauchen“ um zu wachsen – und andererseits wird mit dieser Art der Pauschalisierung der Mensch hinter der Störung und der Symptomatik quasi ausgeblendet – sein massives inneres Leid, was ja erst zu den oft schweren Symptomen führt.

 

Welche Dinge haben Dir am meisten geholfen, die Krankheit zu akzeptieren?

Am meisten hat mir geholfen, zu lernen achtsam und – ganz besonders in den letzten Jahren – mitfühlend mit mir umzugehen. Zu verstehen, dass meine Seele für die schlimmen Gefühle meiner Kindheit keinen anderen Ausdruck finden konnte als in zahlreichen selbstschädigenden Bewältigungsstrategien. Alles nur, um die Gefühle nicht (noch einmal) fühlen zu müssen. Als ich anfing, mich selbst besser kennenzulernen und die Gefühle anzunehmen, wurde es leichter. Ich habe erkannt, dass es keinen Weg gibt, sich an der Angst vorbei zu schummeln. Der Weg hinaus führt mitten durch sie hindurch.

 

Welche Ressourcen nutzt du in Krisensituationen?

Ich habe meinen „Notfallkoffer“, das ist eine kleine Tasche, die ich immer dabei habe. Da sind Dinge drin wie Bachblüten, Chinabalm und Kaugummis. Ich habe Meditationen und Phantasiereisen auf meinem Handy, außerdem zahlreiche Übungen zum Selbstmitgefühl. Ich nutze die Skills um wieder handlungsfähig zu werden, und dann wende ich mich den schwierigen Gefühlen zu. Nicht immer gelingt mir das allein und ich habe den wahrscheinlich tollsten Ehemann der Welt, der mich immer wieder gern und ganz wertfrei in den Arm nimmt, wenn ich ihn darum bitte, mir beizustehen wenn die Gefühle mal wieder zu schwer werden, um sie allein zu tragen.

 

Was möchtest du anderen Betroffenen mit auf den Weg geben?

Es gibt einen Weg aus der Störung. Es ist möglich, einen Punkt zu erreichen, an dem ihr mit den Gefühlen sein könnt und sie euch nicht mehr so vereinnahmen.

Die schlimmen Erfahrungen der Vergangenheit kann niemand ungeschehen machen, die Gefühle dazu werden nie weg sein, denn sie haben absolut ihre Berechtigung! Aber es ist möglich den eigenen Umgang damit zu verändern.

 

Was möchtest du anderen Angehörigen mit auf den Weg geben? Wie können sie dir (einerseits) und sich selbst (andererseits) am besten helfen?

Grenzen, Grenzen, Grenzen.
 
Alle brauchen Grenzen. So schwer das manchmal auch ist – ein Grundproblem bei Beziehungen mit Borderline-Betroffenen sind oft fehlende Grenzen. Angehörige müssen dem/der Betroffenen Grenzen setzen (nicht mit sich spielen lassen, Manipulation unterbinden, Verantwortung zurückgeben) und sich selbst besser abgrenzen lernen (Thema Co-Abhängigkeit).
 
Das ist oft extrem schwer. Wenn z.B. ein geliebter Mensch im schlimmsten Fall mit Suizid droht, dann muss der Angehörige erkennen – so hart es ist –, dass dies eine Form von emotionalem Missbrauch ist!
Jede/r muss die Verantwortung selbst tragen. Niemand anders als ich selbst ist heute für meine Gefühle verantwortlich. Das müssen auch Angehörige für sich selbst verinnerlichen und ihrerseits gut für sich sorgen und ihre Grenzen ziehen.
 
Oft sind Betroffene dann dankbar für die Grenzen, weil in einer grenzenlosen Welt geht ein Betroffener schnell verloren. Genau dieses Verlorensein macht es uns so schwer. Grenzen sind gut: sie geben einen Rahmen, Sicherheit, ein Gefühl von Aufgefangensein.

Wahre Liebe setzt Grenzen!

 

Was macht deinen Charakter aus und welche Eigenschaft schätzt du an dir am meisten?

Diese Frage bringt immer noch alte Muster zu Tage – das ist spannend. Ein Teil von mir möchte jetzt schreiben, was ich denke, das der Leser gerne lesen will. Ich hatte immer große Schwierigkeiten, Fragen zu beantworten, die meinen Geschmack, meine Einstellungen oder Eigenschaften betrafen. Mein Selbstbild gab es ja quasi nicht bis vor 2 – 3 Jahren.

Ich bin sehr neugierig und wissbegierig, lese extrem viel (alles mögliche), bin eher ruhig und oft und gerne ganz für mich. Ich habe wenige, dafür tiefe und ehrliche Freundschaften. Dass ich es geschafft habe, ganz mutig zu mir zu stehen und authentisch sein zu können, im Privatleben und im Beruf, darüber bin ich sehr froh.
 
Annegret bloggt auf: lieblingsmensch.me
Webseite: www.anncor.de
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