Depression: Vom Wahnsinn zurück zum ICH, ich freue mich schon auf MICH!

Betroffene: Stefan Kleine Wolter
Jahrgang: 1962
Diagnosen: Rezidivierende Depression, emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Typ Borderline, Burnout, PTBS, Tinnitus
Therapien: Ambulante Psychotherapie, Reha, stationäre Therapie, Zwangsreha
Ressourcen: Musik, Igelball, Schreiben, Fotografie, Malen, Werken mit Holz, Glas und Beton, unser Hund

 

Wie und wann hast du von deiner Störung erfahren?

Im September 2013, nachdem meine Frau mich zum Arzt schickte, wurde eine mittelgradige Depression diagnostiziert. Ende 2015 die Posttraumatische Belastungsstörung, im Oktober 2016 der Burnout und eine schwere Depression. In der letzten Reha kam dann die Diagnose „emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Typ Borderline“ dazu.

 

Warum hast du dich entschieden, nun Gesicht zu zeigen?

Ich habe jahrzehntelang meine Bedürfnisse immer hinten angestellt. Habe immer nur funktioniert. Habe all das, was man mir „angetan“ hat, immer nur als Ergebnis meines Fehlverhaltens gesehen, das aus heutiger Sicht gar kein Fehlverhalten war. Aber mir wurde schon als Kleinkind eingeredet, dass ich mich falsch verhalte. Heute weiß ich, dass ich mich immer ganz normal für mein Alter verhalten habe. Meine Hochsensibilität und Hochsensitivität wurden immer als schlecht und unnormal dargestellt. Damit kamen meine Eltern nicht klar, ebenso wenig wie mit meiner Hochbegabung, die erst in diesem Jahr einen Namen bekommen hat.
Diese Eigenschaften wie Hochsensibilität oder Hochbegabung, werden heute oft noch als unnormal und sonderlich angesehen. Immer wieder wird versucht, den Kindern diese Eigenschaften „abzuerziehen“. Oft sind Traumatisierungen die Folge. Kinder mit Depressionen, die als Erwachsene dann in den Burnout rennen. Immer auf der Suche nach Anerkennung und Akzeptanz ihrer Person und ihrer Eigenschaften.

Der Gesellschaft müssen die Augen geöffnet werden: dies sind Eigenschaften, die nicht unnormal sind und niemand sich so etwas aussuchen kann. Genauso wenig wie die Haar-, Augen- oder Hautfarbe.

 

Wie hat dein Umfeld reagiert, als es von deiner Krankheit erfahren hat, und welchen Umgang würdest du dir von deinem Umfeld in Bezug auf deine Störung wünschen?

Mit sehr viel Unverständnis. Ein Mann wird doch nicht depressiv! Ein Mann kann doch nicht hochsensibel sein. Super tolle Ratschläge: Du musst öfter mal wegfahren, mehr spazieren gehen, weniger arbeiten, ein dickeres Fell anschaffen, deine Ellenbogen einsetzen. Meine Frau wurde mit Kurznachrichten und Anrufen bombardiert. Wann kann er endlich wieder arbeiten? Sind die Psychologen eigentlich gar nicht in der Lage, die Depression zu heilen? Die Diagnose „Borderline“ gab für viele dann eine Erklärung. Keiner wusste genau, was das ist, aber mein Umfeld hat angenommen, es ist schlimm, mit Ritzen und Selbstmord und so. Viele Menschen, auch meine gesamte Herkunftsfamilie, haben sich abgewendet. Niemand kann alles verstehen, aber man kann akzeptieren. Wie bei anderen Krankheiten auch.

 

Welche Dinge haben Dir am meisten geholfen, die Krankheit zu akzeptieren?

Die Erklärungen der Diagnose. Warum diese Erklärung zu mir und meinen Eigenschaften, Gefühlen und Gedanken passt. Die Akzeptanz meiner Frau und meiner beiden Töchter. Informationen zur Depression, zu seelischen Misshandlungen und deren Folgen. Gespräche mit den Mitpatienten während der Klinikaufenthalte. Und ganz klar die gute ambulante Therapie mit Erklärungen und dem Aufarbeiten meines Lebens.

 

Welche Ressourcen nutzt du in Krisensituationen?

Ein Igelball liegt immer griffbereit. Zurückziehen und Musik hören. Ganz wichtig ist die Anwesenheit unserer Berner Sennenhündin. Das Schreiben meiner Gedanken und Gefühle in meinen Blogs. Hier können meine Gefühle heraus kommen und werden nicht sofort wieder verdrängt. Kreative Tätigkeiten, wie Fotografieren, Fotobearbeitung, Malen, Zeichnen und Werken helfen ebenfalls.

 

Was möchtest du anderen Betroffenen mit auf den Weg geben?

Hört auf euren Körper und akzeptiert die eigenen Gefühle. Das klappt meistens aber nur mit professioneller Hilfe. Niemand sollte sich einreden lassen, dass das alles nur Einbildung ist, dass seine Sicht, seine Gefühle falsch sind. Das sind sie nämlich überhaupt nicht.
Sucht Hilfe und nehmt angebotene Hilfe an. Gibt den professionellen Therapeuten eine Chance euch kennenzulernen. Achtet dabei aber auch auf euer „Bauchgefühl“. Und Vorsicht bei Ratschlägen, manchmal sind es auch Schläge.

 

Was möchtest du anderen Angehörigen mit auf den Weg geben? Wie können sie dir (einerseits) und sich selbst (andererseits) am besten helfen?

Seht den Betroffenen als eigenständigen Menschen, respektiert und akzeptiert ihn. Auch ihr solltet euch öffnen und reden. Geht mit dem Betroffenen ehrlich und offen um. Holt euch auch selbst ggf. professionelle Hilfe. Es mag paradox klingen, aber: Ich brauche oft meine Ruhe und will allein sein, gleichzeitig brauche ich Zuneigung, Liebe und Umarmungen.

Mir helfen anerkennende Worte, wenn ich eine Krise gemeistert habe und keine Vorhaltungen, wenn ich einer Krise erlegen bin.

Ein Satz: „Wow, da warst Du echt stark!“ ist so viel besser als „Aber Du wolltest doch alle Messer wegschmeißen.“

 

Was macht deinen Charakter aus und welche Eigenschaft schätzt du an dir am meisten?

Hochsensibilität und Hochsensitivität sind wohl meine besten Eigenschaften. Für mich sind Respekt und Akzeptanz sehr wichtig. Aber auch Blödsinn, Spaß, Ironie und Sarkasmus.

 

Stefan bloggt auf: Kraftlos & Müde.