Magersucht, PTBS und Zwangsstörung: Obwohl ich Angst hab, bin ich mutig.

Betroffene: Enken

Jahrgang: 2006

Diagnosen: Anorexia nervosa, Posttraumatische Belastungsstörung mit somatisierenden und depressiven Anteilen, Zwangsgedanken und -handlungen

Therapien: Verhaltenstherapie, medikamentöse Therapie, Ernährungstherapie

Ressourcen: Malen und Zeichnen, Kontakt zu Tieren, Theater spielen, Freund*innen

 

 

Wie und wann hast du von deiner Erkrankung erfahren?

Die offizielle Diagnose „Anorexia nervosa“ habe ich vor rund zwei Jahren bekommen. Ich würde aber lügen, wäre mir das nicht vorher schon unterschwellig bewusst gewesen. Ich wusste, dass mein Verhalten nicht mehr so wirklich gesund war – und gleichzeitig wusste ich es nicht. Bzw. habe ich alles darangesetzt, es vor mir und allen anderen Personen abzustreiten. Letztendlich bin ich morgens in der Schule mehr oder weniger zusammengebrochen – nicht so, dass ich tatsächlich bewusstlos gewesen wäre, aber mir wurde schwindlig, ich habe Hände, Lippen und Beine nicht mehr richtig gespürt und gezittert, vor meinen Augen sind Bilder abgelaufen, die mir schrecklich real vorkamen, obwohl es doch Erinnerungen waren. Rückblickend waren das erste für mich richtig spürbare Zeichen der PTBS, gekoppelt an die völlige körperliche und seelische Überlastung, in der Situation selbst wusste ich gar nicht, was mit mir passiert. Am Nachmittag war ich dann beim Arzt – nichts. Alles seie soweit ok. Als es mir in den nächsten Tagen weiterhin nicht besser ging, gingen wir wieder dorthin. Ich wurde gewogen, allerdings war eine Vertretungsärztin da, sodass auch das erstmal nicht alarmiert hat, Blut wurde abgenommen und so weiter – alle waren sich einig, dass ich nicht gut/gesund aussehe/wirke, aber niemand konnte sagen weshalb.

Die Blutergebnisse lieferten schlussendlich die Diagnose Pfeiffer’sches Drüsenfieber, doch als meine Ärztin sich die gesamten Untersuchungsergebnisse ansah, fiel ihr das Gewicht deutlich eher auf. Bzw. vor allem der Unterschied zumletzten dokumentierten Gewicht. Es folgten wöchentliche Wiegetermine, immer wieder Gespräche mit Ärzten, bis meine Kinderärztin mich zu meiner jetzigen Therapeutin schickte. Auch da vergingen mehrere Monate, bis ich mich so weit öffnen konnte, als dass sie eine Diagnose stellen konnte.

Die PTBS und auch die Zwangsstörung habe ich erst später im Rahmen eines Klinikaufenthaltes bekommen/erfahren.

 

Warum hast du dich entschieden, nun Gesicht zu zeigen?

Weil ich mich nicht länger für diese Krankheit(en) schämen und diese verstecken will. Es ist einfach unfair – die allermeisten körperlichen Krankheiten erfahren selbstverständlich Mitgefühl, man bekommt Unterstützung angeboten, es ist völlig klar, dass ein „normaler“ Alltag herausfordernd bis unmöglich ist und darauf wird Rücksicht genommen.

Psychische Krankheiten sucht sich genauso niemand aus und es ist alles andere als lustig damit zu leben – das hat nichts mit Faulheit oder Anstellen oder sonst was zu tun. Trotzdemgibt es eine unglaubliche Stigmatisierung, es wird „normales“ Verhalten erwartet, man wird als „zu bequem“ abgestempelt und dabei können sich die Menschen, die diese Erwartungen stellen nicht im Ansatz vorstellen, wie es ist, Gefangene*r in seinen eigenen Gedanken zu sein.

 

Wie hat dein Umfeld reagiert, als es von deiner Krankheit erfahren hat, und welchen Umgang würdestdu dir von deinem Umfeld (und der Gesellschaft) in Bezug auf deine Erkrankung wünschen?

Meine Mutter ist selbst psychisch erkrankt, für sie war es gar kein „Problem“, sie wollte nur wissen, ob sie mich irgendwie unterstützen kann. Mein Vater ist laut geworden – hat mich immer und immer wieder gefragt,warum ich mich so dumm verhalte, bis ich irgendwann geweint habe. Er versteht es bis heute nicht wirklich, kann es aber mittlerweile zumindest an den meisten Punkten akzeptieren.

Meine Freund*innen und andere Familienmitglieder haben sehr durchmischt reagiert, allgemein kann man aber sagen, dass es sie sehr verunsichert hat. Einige Freund*innen waren ähnlich wie meine Mutter – sie haben mir Freiraum gegeben, gleichzeitig aber signalisiert, dass sie immer da sind. Eine bessere Reaktion könnte ich mir nicht vorstellen. Die meisten waren entweder verwirrt, weil sie die Krankheit nicht kannten oder aber davon, dass „man mir das doch gar nicht anmerkt“, oder aber sie haben einfach geschwiegen und das Thema gewechselt.

Ich würde mir wünschen, dass genau dieses Schweigen gebrochen wird. Dass psychische Krankheiten genau so akzeptiert und berücksichtigt werden wie körperliche. Und dafür braucht es Aufklärung und Endstigmatisierung. Ich wünsche mir, dass sich nicht daran aufgehangen wird, ob man denkt, der*die Betroffen*e hätte einen Grund oder nicht – bei jeglichen körperlichen Krankheiten würde da niemand drüber nachdenken, außerdem gilt: Not your business – du weißt nicht genug über das Leben eines anderen, um das beurteilen zu können und überhaupt lenkt das nur von der Thematik ab.

Es geht darum, sich gegenseitig zu unterstützen und die Situation so zu nehmen, wie sie nun mal ist, ohne eine Bewertung vorzunehmen, oder das Erleben einer Person infrage zu stellen.

 

Welche Dinge haben dir am meisten geholfen, die Krankheit zu akzeptieren?

Internetseiten wie „Ninette Berlin“ oder „Du bist alles“. Ganz viele Gespräche – mit Fachleuten, mit anderen Betroffenen. Generell Psychoedukation. Und Bücher mit Geschichten über Leute, die ebenso psychische Krankheiten haben.

 

Welche Ressourcen nutzt du in Krisensituationen?

Ich habe über die Zeit ein recht gutes Netzwerk an Fachleuten und Menschen, die mir wichtig sind aufgebaut, die ich anrufen kann – wenn das nicht geht, nutze ich auch Krisenchat-Angebote. Und ich sammele Briefe und andere kleine, vermeintlich alltägliche Sachen oder Nachrichten, die mich daran erinnern, nicht alleine zu sein und die ich mir in Krisensituationen angucken kann.

 

Was möchtest du anderen Betroffenen mit auf den Weg geben?

Du bist nicht allein, auch wenn es sich so anfühlt. Du leistest Unglaubliches, alleine dadurch, dass du die Tage durchhältst und Dinge wie Essen, morgens aufstehen oder, oder, oder meisterst. „Mut ist, wenn du mit der Angst tanzt“ und ich bin mir ohne dich zu kennen sehr sicher, dass du sehr mutig bist, auch wenn du das vielleicht nicht spürst.

 

Was möchtest du anderen Angehörigen mit auf den Weg geben? Wie können sie dir (einerseits) und sich selbst (andererseits) am besten helfen?

Mir helfen? Da sein und gleichzeitig Raum geben. Unterstützung signalisieren, aber gleichzeitig nicht drängen. Es hilft beiden, wenn sich Angehörige mit der Erkrankung befassen, um Unsicherheiten ein wenigaus dem Weg zu räumen und Verständnis zu entwickeln bzw. das Gefühl zu geben, dass Interesse besteht, die Krankheit ernst genommen wird und die Sicherheit zu geben, dass Wissen darüber besteht, dass es auch anderen Menschen so geht und der/die Betroffene sich nichts „ausdenkt“.

Dabei ist allerdings wichtig: jede psychische Krankheit ist anders, es kann also gut sein, dass man Informationen über Symptomatiken findet, von denen die Person gar nicht oder anders als beschrieben betroffen ist – das ändert nichts daran, dass die Krankheit besteht und ernst zu nehmen/zu respektieren ist.

Sich selbst zu helfen ist dabei allerdings genauso wichtig, denn es bringt der erkrankten Person am Ende gar nichts, wenn Angehörige sich so sehr auf Hilfestellung fokussieren, dass ihre eigene psychische Gesundheit leidet/gefährdet ist. Es kann hilfreich sein, sich mit anderen Angehörigen auszutauschen, die eine ähnliche Situation erleben. Außerdem sind Zeiten im Alltag, in denen es mal nur um sich selbst und nicht um das erkrankte Familienmitglied/die*den erkrankte*n Freund*in geht. Spaß haben und das eigene Leben trotzdem so unbeschwert wie möglich weiterzuleben und sich selbst nicht immer hintenanzustellen, sind in Ordnung. Mehr noch: all das ist essenziell und der*die Betroffen*e möchte, dassdu es tust, damit es dir gut geht.

 

Was macht deinen Charakter aus und welche Eigenschaft schätzt du an dir am meisten?

Ich bin ruhig, aber interessiert. Mich faszinieren unglaublich viele Dinge, ich versuche immer (manchmal vielleicht etwas zu sehr) mich in mein Gegenüber hereinzufühlen. Ich glaube Neugierde ist die Eigenschaft, die ich am meisten an mir schätze.