Prokrustes und seine Gäste. Ein Gastbeitrag von Andreas Meyer.

Prokrustes und seine Gäste

Ein Gastbeitrag von Andreas Meyer

Jeder Mensch passt in eine Schublade — man muss ihn nur behandeln, wie Prokrustes, eine Gestalt der griechischen Mythologie, seine Gäste. Prokrustes bot Reisenden ein Bett an, aber in manchen Sagen zwang er auch Wanderer, sich auf ein Bett zu legen. Wenn sie zu groß für das Bett waren, hackte er ihnen die Füße bzw. überschüssigen Gliedmaßen ab; waren sie zu klein, hämmerte und reckte er ihnen die Glieder auseinander, indem er sie auf einem Amboss streckte. Er wurde von Theseus heldenhaft getötet. Ich bin ein großer Fan griechischer Mythologie, Geschichte und Philosophie. Die Wurzeln unser aller abendländischen Weisheit liegen dort!

Es gilt, vor allem sich selbst nicht so zu behandeln, dass man in eine Schublade passt — man nehme sich liebevoll  so an, wie man ist ohne sich zu verstümmeln. Jeder ist einzigartig und Erschaffer seiner Realität, Herr im eigenen Haus seiner Seele und wertvoll — auch für andere. Das zu erkennen und in seinen Handlungen umzusetzen, ist, vor allem in depressiven Phasen, fast unmöglich. Hier brauchen wir alle Mutmacher.

Mut macht mir ein aufrichtiges Lächeln meiner Lieben oder eine/s/r Fremden. Feinde habe ich auch — deren Befindlichkeit oder Angriffe sind mir gleichgültig. Werde ich angegriffen, wehre ich mich, indem ich laufe. Gerate ich in eine Sackgasse und ein Kampf ist unausweichlich, stelle ich mich dem und hoffe auf ein gutes Ende, den Sieg. Gottseidank trat letzter Fall noch nicht ein, ich de-eskaliere immer und biete meine Hand an, die sich blitzschnell zur Faust wandeln kann.  Es ist sehr anstrengend, immer in Hab-Acht-Stellung durch die Welt zu laufen, hinter jeder Ecke den Sensenmann zu wittern — doch mein Wahlspruch passend zu meiner Hauptdiagnose F 20.0 ist: „Lieber paranoid als tot!“ so lebe ich noch und alles wird sich zum Guten wandeln. Meine Träume beerdige ich erst mit mir selbst — die Hoffnung stirbt mit mir.

Im Gegensatz zu vielen anderen habe ich ausschließlich gute Erfahrungen mit der Psychiatrie gemacht und empfinde die Kategorisierung durch meine Diagnosen und Medikamente als Segen, denn man ist ja froh, dass man beispielsweise seine Schuhgröße kennt und im Laden passend schnell Schuhe kaufen kann, ohne dass man diese erst nach langer Zeit maßangefertigt und zu einem sehr, sehr teuren Preis kaufen muss.

Jede Diagnose hat ihre Besonderheiten und erfordert eine angepasste Behandlung: Diagnosen stellen ist eine hohe Kunst und erfordert viel Zeit und Kenntnis des Klienten von der Psychiateri/n aus. Natürlich, sie kann irren, doch das tut jeder mal  im Leben und ich habe keine Psychiater/in kennengelernt, die einen Irrtum nicht eingestanden hätte. Im Laufe meiner Krankheit habe schon viele Psychiater/innen und Therapeut/innen gehabt — zu manchen Ex-Psychiater/innen habe ich heute noch Kontakt und  diese laden mich auf einen Espresso ein, um zu ratschen.

Um wieder zu Prokrustes zu kommen: die Psychiater/in, wenn es eine Gute ist, steckt einen nicht in eine Schublade, sondern zaubert aus einer Schublade das Passende heraus — Medikamente, Therapien, Unterstützung. Diese gilt es anzunehmen und sich darum zu kümmern. Ich hatte immer das Bedürfnis, mich „faul“ ins Bett zu legen und die Decke über den Kopf zu ziehen — so funktioniert es natürlich nicht, man hat proaktiv vorzugehen und, um in einer Analogie zu reden, die Uhr seines Lebens aus gegebenen Einzelteilen zusammenzusetzen — das Harte daran ist, dass der ´“Bauplan“ der Uhr nicht existiert, es ist also ein „Schweizer Uhrenpuzzle“.

Doch wie froh war ich, als endlich einige Bausegmente liefen und am Ende die Uhr steht und auch die korrekte Zeit anzeigt und beibehält! Es ist ein Glücksgefühl sonder gleichen, seine Pflicht zu tun, derzeit mit Leichtigkeit durch das Leben zu gehen, Fehler machen zu dürfen, und zu sehen, dass man dennoch von seinen Lieben angenommen wird. Dieses Glück hat nicht jeder — mein altes Selbst beneidete mich sehr um das, was ich heute bin. Milliarden Schritte waren notwendig, um dahin zu kommen — und jeder kann sich wohl in seiner Haut fühlen und Glück empfinden.  Glück ist immer eine Sache in sich Selbst und eine Sache der Perspektive. Hui, der Lieblingsschüler des Konfuzius, ließ sich auch in einer elenden Gasse bei einem Schälchen Wasser und einem kläglichen Schälchen Reis pro Tag seiner Fröhlichkeit nicht berauben.

Aphorismen Leute und Mut von Andreas Meyer hier zum Download.