Mutmachleute Vom Aufgefangen werden

Vom Aufgefangen werden

Ganz klar, das kennt jeder Mensch: Es gibt Tage oder Wochen, da geht nichts. Bei mir ist es dann so: Ich kriege meine Todos nicht auf die Kette, verschiebe Sachen auf morgen, sage Treffen ab, kann mich nicht konzentrieren oder dies nur auf eine ganz bestimmte, aber nicht förderliche Sache, bin gereizt, bin genervt, bin nervig, bin zu aufgedreht, zu abgedreht, zu was auch immer – so mag ich mich gar nicht. Und wenn ich mich nicht so mag, wie sollen mich dann die anderen mögen?

 

Was ich nicht alles bin (oder sein will)! Und dann kommt es anders.

 

Ich bin Perfektionistin – natürlich muss alles tipptopp und perfekt sein am Ende des Tages, was ich anfange. Wird es aber oft nicht. Erst nach mehreren Korrekturschleifen oder Diskussionen oder völligem Umdenken wird das Ergebnis dann genehm. Wenn ich es nicht hinkriege, führt dies unwiderruflich in die Gedankenspirale: „Du kannst nichts, du bist nichts, du bist zu blöd, du bist zu faul, du bist zu …“. An diesen Tagen will ich keine Herausforderungen mehr, ich will mich verkriechen, nichts mehr sehen und hören, alles an die Wand fahren. Meine Frustrationsschwelle? Niedriger geht’s nicht. Ich falle.

Ich bin willensstark – wenn ich mir etwas in den Kopf setze und für etwas brenne, lasse ich mich von nichts und niemandem abhalten. Leider ist das Leben aber nun mal so, dass hier und da ein paar Stolpersteine im Weg herumliegen. Die müssen weggeräumt oder übersprungen oder umgangen werden. Anstrengend! Dafür habe ich keine Zeit! Dafür habe ich keine Geduld! Dafür habe ich kein Geld! Zähneknirschend sehe ich dann, dass manch Ding Weile haben will. Meine Frustrationsschwelle? Niedriger geht’s nicht. Ich falle.

Ich bin selbstbewusst – ich weiß, was ich will, wer ich bin, wohin ich will, was ich kann, wer zu mir steht, wem ich vertrauen kann. Dann kommt eine Absage, ein nerviger Anruf oder auch eben kein Anruf, Kritik zur „falschen Zeit“, ein missverständliches Wort, ein schiefer Blick, ein Spruch in den falschen Hals – Feierabend mit meinem Selbstbewusstsein. Meine Frustrationsschwelle? Niedriger geht’s nicht. Ich falle.

 

 

Und dann fängt Dich jemand auf 

 

„Ich mach das für Dich.“

Kürzlich konnte ich eine ganz einfache (berufliche) Aufgabe nicht erfüllen. Sie hätte mich eine halbe Stunde Zeit und Konzentration gekostet, nichts Wildes, nichts, was ich normalerweise nicht mit Links mache – die Abgabefrist aber war abends. Mehrere Stunden saß ich vor dem leeren Dokument, verzweifelte immer mehr an dem Nebel in meinem Gehirn, raufte mir die Haare, keine Tricks halfen, am Ende stand die Kapitulation vor mir und sagte: „Vergiss es, lass es einfach, du hast es nicht drauf.“ Was folgte? Ein emotionaler Ausnahmezustand, ich weinte und verkroch mich, zweifelte an allem und vor allem an mir … und dann bat ich um Hilfe. Mein Mann half mir, diese ganzen drei oder vier Sätze so zu formulieren, wie es nötig war. Er übernahm das für mich, er nahm es mir ab, und mir fielen Gesteinsbrocken von den Schultern. Er machte das einfach für mich. Und fing mich damit auf und ein düsteres Szenario in meiner Gedanken- und Gefühlswelt ab.

 

„Sie dürfen auch mal abgeben.“

Beim letzten Besuch bei meiner Psychiaterin war ich etwas instabil. In meinem Fall nennt sich das „Mischzustand“, mein Nervensystem war überreizt, ich war hyperagil, hyperangespannt, hypernervös, hypersensibel und gleichzeitig fatalistisch, getrieben, aggressiv, leicht depressiv. Ein fürchterlicher Zustand, der aber noch viel schlimmer hätte kommen können. Ich sagte, ich müsse weitermachen, arbeiten, für meine Familie da sein, dieses und jenes erledigen, eine riesige private Baustelle hinkriegen, ausgerechnet jetzt könne ich nicht ausfallen! Meine Ärztin sah mich an und sagte sanft: „Wenn es Sie beruhigt: Sie dürfen in die Klinik gehen, wenn Sie das brauchen. Sie dürfen eine Auszeit nehmen. Sie dürfen sich um sich selbst kümmern.“ Sie fing mich dadurch mit meinen ganzen Sorgen, ich müsse doch immer funktionieren – auch als Mutter – auf.

 

„Und jetzt lass uns Kaffee trinken gehen.“

Eine andere Situation: Ich habe vor einer Weile einen (kleineren) Fehler gemacht, der Geld gekostet hat, nicht viel, aber es hat gereicht, mich ins emotionale Abseits zu schießen. Meine Auftraggeberin und Freundin sagte zu mir ganz einfach: „Tina, es ist kein Problem. Wir machen das neu, sowas passiert, es ist überhaupt nicht schlimm – lass uns jetzt einen Kaffee trinken gehen.“ Diese wunderbare Frau hat meine Tränen weggescheucht, mich an die Hand genommen und mich damit aufgefangen.

 

Ich muss nicht immer stark sein!

Oder erst vor Kurzem erreichte uns eine ellenlange Email mit vielen kritischen Punkten gleich einem Audit, was mich völlig unvorbereitet von der Rolle warf. Selbstverständlich wollte ich alles hinwerfen, hinterfragte alles, ich war stinksauer, fühlte mich schwach und zog mich am Ende heulend für den restlichen Tag aufs Sofa zurück. Mein Freund und Kollege fing mich auf. „Wir regeln das. Wir antworten Schritt für Schritt, legen unsere Argumente dar und werden einen Kompromiss finden. Leg jetzt das Thema für dich zur Seite. Wir kümmern uns drum“. Da wusste ich: Alles wird gut. Wurde es auch.

 

 

Was hat das Ganze jetzt mit der (Ent-) Stigmatisierung zu tun? Und mit Mut?

 

Ganz klar: Die Menschen um mich fangen mich auf und tun dies aus Freundschaft und Respekt. Es spielt für sie keine Rolle, dass ich eine Betroffene bin und den Hang zu etwas extremeren Reaktionen habe. Ja, manchmal schaffe ich diese Dinge nicht, und dies könnte in Teilen an meiner Erkrankung liegen. Sie nehmen mir Dinge ab, die ich einfach gerade nicht schaffe – aus Freundschaft und Empathie, nicht wegen meiner Erkrankung. So, wie ich ihnen auch manchmal Dinge abnehmen kann.

Es geht um das Miteinander, um das Füreinander, um Mitmenschlichkeit. Wie dankbar ich dafür bin! Die Tatsache, dass sie da sind; die Tatsache, dass sie mich auffangen; die Tatsache, dass auch ich sie einmal auffangen kann – macht mir unendlich viel Mut!

 

 

An dieser Stelle danke ich den vielen Menschen um mich herum, die mich trotz meiner oft schwierigen und anstrengenden Eigenschaften auffangen – und nicht abstempeln.

Text: Tina Meffert

Foto: unsplash