Mutmachleute Genesungsbegleitung

Für mich geht es nicht um Diagnosen, sondern um die Menschen dahinter: Vorbild dringt tiefer als Worte.

Name: Sandy Drögehorn
Beruf: EX-IN Genesungsbegleiterin
Jahrgang: 1975
Betreut KlientInnen: vorwiegend Depressionen, Angststörungen, PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung), aber eben auch alle anderen „Diagnosen“ werden gerne von mir begleitet und beraten
Hilfsangebote: Gesprächsgruppen, Einzelgespräche, Ressourcenstärkung, Hypnose, Begleitung und noch vieles mehr

Welche persönliche Krisenerfahrung hast du als ehemalige Betroffene gemacht? Auf welchem Gebiet bist du eine Erfahrungsexpertin geworden? (z.B. Psychosen, Schizophrenie, Depressionen)

Meine hauptsächlichen Erfahrungen habe ich mit schweren Depressionen, Angststörungen und der PTBS gemacht. Durch meine Ausbildung als EX-IN Genesungsbegleiterin und auch in meiner bisherigen Berufserfahrung konnte ich auch schon in die meisten anderen psychischen Erkrankungsbilder gucken und meine Erfahrungen sammeln.
 

Welche persönlichen Erfahrungen hast du mit der Psychiatrie bzw. psychiatrischen/psychologischen Diensten gemacht? Was ist deine Motivation gewesen, eine ExIn-Ausbildung zu absolvieren und nun Menschen zu helfen?

Ich war vier Monate in einer Tagesklinik und habe eine psychosomatische Reha gemacht. Ich habe viele Jahre verschiedene Therapieverfahren ausprobiert und zum Glück dann die für mich absolut richtige Therapeutin und Therapieform (systemische Therapie) entdecken können. Mir wurde damals während meiner Diagnose erklärt, dass ich nie wieder arbeiten könne und den Rest meines Lebens Medikamente einnehmen müsse. Mittlerweile arbeite ich wieder voll, bestreite mein Leben alleine und nehme seit drei Jahren keine Medikamente mehr. Somit möchte ich als Vorbild vorangehen und zeigen, dass es sich lohnt, über den Tellerrand hinauszusehen.

 

Welche Vorurteile bzw. falschen Vorstellungen gibt es in der Gesellschaft zum Erkrankungsbild, mit dem du als ExIn mittlerweile PatientInnen betreust?

Auch wenn Depressionen als Volkskrankheit Nummer 1 gelten, sind sie noch immer in der Gesellschaft ein Tabu-Thema. Für ein paar Wochen lang fühlt das Umfeld mit, hat Verständnis und ist aufgeschlossen – doch danach kommen wieder Phrasen, Unverständnis und Erwartungsdruck. Leider hat das Umfeld noch immer nicht verstanden, dass man mit einer Depression nicht einfach aufstehen und loslegen kann. Erst einmal muss der Jetzt-Zustand sein dürfen und gesehen werden können. Es hat ja seinen Grund, warum ein Mensch am Boden ist. Erst dann kann es aufwärts gehen, aber nicht unter Druck. Es geht gar nicht darum, den Betroffenen alles abzunehmen, sondern sie erst mal voll und ganz zu sehen und zu akzeptieren, dass sich das Tempo ändert. Und wenn man ihm oder ihr dann Vertrauen entgegenbringt, dass er oder sie es eben auch im eigenen Tempo schaffen kann, dann kann es gelingen.
 

Wie hilfst du betroffenen Menschen in Einrichtungen ganz persönlich und welche hilfreichen Therapiemöglichkeiten gibt es deiner Meinung nach?

Ich sehe und akzeptiere die Betroffenen. Ich höre zu und erarbeite gemeinsam mit ihnen Möglichkeiten: durch Gespräche, Zuhören und Aktivitäten. Es gibt meiner Meinung nach nicht den einen, den richtigen Weg. Es gibt nur individuelle Wege. Jeder Mensch ist anders. Und das ist auch gut so. Und somit ist jeder Genesungsweg individuell.

 

Welche besonderen Fähigkeiten haben Betroffene? Wie kannst du ihnen als ehemalig Betroffene einen Weg zeigen, diese für sich zu finden?

Betroffene haben meist ein viel feinfühligeres Verständnis für sich und ihre Umwelt. Sie sind behutsamer, sensibler, achtsamer, reflektierter. Durch Gespräche finden wir gemeinsam heraus, wie die nächsten Schritte aussehen können und dann versuchen wir, diese zu gehen. Jeder in seinem Tempo und soweit er kann. Ich unterstütze sie, indem ich zur Selbstbefähigung anrege und nicht, indem ich abnehme. Für mich macht es einen großen Unterschied, ob da jemand vor mir sitzt, der die Erkrankung selbst gespürt hat, genau versteht, was da in einem vorgeht, oder ob ein Arzt oder Therapeut vor mir sitzt, der sein Wissen „nur“ aus Büchern hat. Ich selbst hatte einen Freund mit schweren Depressionen und ich habe es nicht verstanden. Konnte es gar nicht nachempfinden und hatte keine Idee, was zu tun sein könnte. Heute weiß ich, was ich für furchtbare Ideen vorgebracht habe und wie schlimm sich solche ungebetenen Ratschläge anfühlen können. Durch die „Augenhöhe“ sind ganz andere Gespräche möglich und somit auch eine andere Arbeitsbasis.
 

Zu guter Letzt: Genesungsbegleiter sind MitarbeiterInnen in Institutionen, Kliniken und Betreuungsstellen, die einen immer höheren Stellenwert und Ansehen genießen. Welchen Mehrwert siehst du für dich persönlich in deiner Arbeit mit betroffenen Menschen?

Meine Krisenzeiten ergeben heute einen anderen Sinn. Sie sind die Grundlage für meine Arbeit. Natürlich haben sie einen ganz persönlichen Zusammenhang für mich und mein Leben und ich musste eine Menge ändern, um gesund zu werden. Aber umso wichtiger ist es doch auch, diese Erfahrung zu teilen.