Schluss mit bis zum Umfallen!

Leistungsbereitschaft bis zum Umfallen, Perfektionismus, Selbstoptimierung bis zur Selbstaufgabe, Arbeiten bis ans Limit, grenzenloses Ackern

– was für viele nach exzessiver Überanstrengung klingt, ist ebenso Realität bei vielen Arbeitnehmer*innen. Nicht unbedingt, weil sie wollen – sondern weil sie müssen.

Mit der Folge, dass immer mehr Menschen krank werden in einem System, das sie überfordert, an oder über Grenzen bringt, weil es nur einfordert im Tausch gegen Gehälter, die für viele nicht zum Leben reichen. Die Arbeitswelt hierzulande kennt in vielen Branchen keine Kompromisse und ist ausgerichtet auf jene, die bereit sind ihre Karriere allem voranzustellen und (große) Opfer zu bringen. Oftmals gibt es in diesen Lebensabschnitten keinen Platz und keine Zeit für Kinder, die Pflege von Angehörigen oder die eigene psychische Gesundheit – ebenso wie die physische. Weil es scheinbar keinen Ausweg gibt oder schlichtweg die Alternativen fehlen. Oder es fehlen den pflegenden Angehörigen mangels Finanzierbarkeit eine Menge Zeit und Geld, den Alleinerziehenden der Kindertagesstättenplatz, für Menschen auf dem zweiten Arbeitsmarkt gibt es keine Perspektiven  (der Wechsel in den „normalen“ Arbeitsmarkt, ist fast unmöglich) oder den Arbeitnehmer*innen gleich alles. Und natürlich gibt es verschiedene individuelle biografische Faktoren, zu denen auch mangelnde Schul- und Ausbildungsabschlüsse zählen.

Durch die Digitalisierung, nicht zuletzt „Dank“ der Pandemie und den notwendigen Maßnahmen durch die Kontaktbeschränkungen, hat sich enorm viel verändert. In vielen Bereich ist das Arbeiten weniger zeit- und ortsgebunden. Bei allen Vorteilen: das ist nicht immer nur positiv. Smartphone, Computer, Meetings – wir sind ständig online und gefühlt 24/7 erreichbar. Die Vermischung von Arbeits- und Privatleben, Erreichbarkeit und Freizeit, Chef*in und Kindern schafft ein zunehmendes Spannungsverhältnis und steigert das Risiko für psychische Erschöpfung und Erkrankungen.

Da wir ja verfügbar sind und dauernd online, geht auch abends mal schnell ein Meeting, beim Mittagsschlaf der Kinder das Upgrade der Datenbanken, beim Kochen die Recherche für einen Artikel (bis gestern) und beim letzten Blick auf das Handy beim Zubettgehen wird der Terminkalender für morgen aktualisiert.

Dann kann Arbeit krank machen. Dabei gehören die psychischen Erkrankungen zu den häufigsten Ursachen für Arbeitsunfähigkeitstage und sind oft mit langen Ausfallzeiten verbunden. Sie stellen auch die häufigste Ursache für vorzeitige Berentungen in Deutschland dar und stehen z.T. in Wechselwirkung mit verschiedenen chronischen und körperlichen Erkrankungen.

 

Dabei kann für psychisch Kranke eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt heilende Wirkung haben.

Arbeiten hat positive Aspekte auf Selbstbewusstsein, Krankheitsverlauf und allgemein auf die Lebenssituation von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Das muss nicht Vollzeit sein, es kann ganz einfach Teilzeit sein, aber wichtig ist: „normale“ Arbeit!

Eine selbstständige und eigenverantwortliche Lebensführung macht Mut: „Ich schaffe das!“

Arbeit hat also durchaus eine gesundheitsförderliche Wirkung. Eine regelmäßige Tagesstruktur hilft im Alltag, fördert die (gesellschaftliche) Teilhabe und sichert das monatliche Einkommen. dennoch sind vor allem Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen überdurchschnittlich oft von Arbeitslosigkeit betroffen. Das Versorgungs- und Rehabilitationssystem ist eben noch nicht so aufgestellt, wie es für sie notwendig wäre.

Strukturgebung und Identitätsfindung, ein eigenes Einkommen generieren, soziale Anerkennung – das alles ist so wichtig für das Selbstwertgefühl.

 

Hier braucht es mutige Arbeitgeber*innen!

Her also mit den Unternehmen, die ihren Mitarbeiter*innen die Chance geben, ihre Arbeitspflicht erbringen zu können, ohne gleichzeitig verzichten zu müssen. Dazu braucht es (gegenseitiges) Vertrauen – und keine Kontrolle.

Her also mit neuen Arbeitsabläufen und einem modernen Arbeitszeitmodell. Das gilt gleichermaßen für die Automechatroniker*innen oder die  Abteilungsleiter*innen eines mittelständischen Unternehmens, die Pflegefachkräfte auf Station, die Bäcker*innen, Reinigungskräfte, Lehrkräfte oder die Sachbearbeiter*innen usw. und wo auch immer.

Her also mit agilen, flexiblen Strukturen, von denen alle profitieren. Die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen am Arbeitsleben ist eine Voraussetzung für eine inklusive Gesellschaft. Daran muss sich eine Gesellschaft messen lassen können.

Her mit einfachen Maßnahmen, die es leichter machen: Home-Office-Zeiten für Menschen, die sich im Büro nicht konzentrieren können, flexible Arbeitszeiten und die Möglichkeit, Verpasstes nachzuarbeiten. Ein Netz von Kolleg*innen, die auf- und abfangen können.

Her mit der Menschlichkeit in einem System, in dem wirtschaftliche Kennzahlen nicht mehr immer nur im Vordergrund stehen sollten. Hinter diesen stehen nämlich die Menschen. Und die sind keine Maschinen und mehr als 0 oder 1.

 

Weg mit toxischen Unternehmensstrukturen und Führungskräften!

Stupide Hierarchien, autoritäre Mitarbeiter*innenführung, eine insgesamt toxische Atmosphäre in der Firma – all das macht das Arbeiten in so manchen Unternehmen schier unmöglich. Das sind nicht nur Sticheleien, das nicht Miteinbeziehen bei Entscheidungen, zu geringe Gehaltserhöhungen oder gar keine  u.v.m. – da schweben oft noch andere Dinge im Raum.

Eine OnDemand Studie von Cornerstone hat bei über 60.000 Angestellten gezeigt, dass gute Arbeitskräfte mit einer 54% höheren Wahrscheinlichkeit ihren Job kündigen, wenn solche Strukturen vorherrschen. Natürlich hat dies Auswirkungen auf die Effizienz und Kosten der Unternehmen. Aber vor allem auf die Mitarbeiter*innen. Risiken wie Burnout und dauerhafter Stress dauerhaft auszuhalten kann psychisch krank machen.

Toxische Kolleg*innen oder Führungskräfte sind dabei eigentlich recht schnell und einfach zu erkennen: Sie sind emotional unkontrolliert, verdeckt oder offen; sie kritisieren auf manipulative Weise, sind egozentrisch, lügen und vergessen bewusst, argumentieren aus der Opferrolle oder stellen sich über andere und gehen „über Leichen“ für ihre Karriere. Schlechte Führung zermürbt Teams und vergiftet die Unternehmenskultur.

Machiavellismus – das können wir dann häufig beobachten. Das bedeutet das Missachten moralischer und ethischer Werte und Prinzipien, Ausnutzen der „Schwächen“ und Ängste von anderen, aber auch das Ausnutzen von Leichtgläubigkeit der anderen – Täuschen, Manipulieren, über Grenzen treten, Verunglimpfen bis hin zu offenem Mobbing – wer soll das auf Dauer aushalten?

Und am schlimmsten ist es, wenn Mitarbeiter*innen aufgrund ihrer psychischen Verfassung stigmatisiert, diskriminiert und gemobbt werden. Das ist respektlos, untragbar und ein guter Grund zur Klage.

Und dann ist es höchste Zeit zu gehen.

 

Toxische Männlichkeit

Vergessen wir nicht die toxische Männlichkeit. Immer noch sind Männer auf Führungsebenen, in den Vorständen und Aufsichtsräten in der Mehrheit. Dabei sind es die vielen Frauen, die innovative Perspektiven und Ideen einbringen, die konfliktfähiger sind, aber auf Karriere und Gehalt verzichten, weil sie doch noch weniger verdienen als ihre Lebenspartner*innen. Dann haben sie Lücken durch die Erziehungszeiten, von anderen Nachteilen mal abgesehen, haben sie schlicht und ergreifend nicht mehr die gleichen Chancen wie die Männer. Denken wir an den Gender-Pay-Gap. Frauen übernehmen immer noch überwiegend unbezahlte Care-Arbeit. Frauen mit gleichen Qualifikationen und Berufserfahrungen verdienen immer noch bis zu 20% weniger als ihre männlichen Kollegen. All das ist automatisch inkludiert.

Toxische Männlichkeit beharrt auf diesen alten patriachalischen, autoritären, Glaubenssätzen und Verhaltensweisen. Sie speist sich aus vermeintlichen Vorgaben, wie ein Mann sein soll, was er zu fühlen und wie er sich zu verhalten habe. Und die Frau. Und was sie zu verdienen hat.

Das Problem beginnt schon in der Kindheit: Die geschlechterspezifische Sozialisation bietet Jungen und Männern „keine breite emotionale Entfaltungsmöglichkeit“, immer noch, immer noch auch im 21. Jahrhundert. Wir wissen das doch eigentlich: Kinder müssen die Chance bekommen, sich frei von Geschlechterstereotypen entwickeln zu können.

Diskriminierung und (emotionale) Gewalt sind in unseren gesellschaftlichen Strukturen verankert.

Sich aus dieser Rolle heraus zu bewegen ist ein enormer Prozess, und vielerorts ändert sich dies erst durch das Nachrücken folgender Generationen. Dauert also noch.

 

Change it oder leave it

Das eine kostet viel Kraft und macht im Zweifel krank. Das andere kostet Zeit.

Aber wenn wir ehrlich sind, sind solche Führungs- und Unternehmensstrukturen nicht förderlich für die psychische Gesundheit. Da hilft es nur wenig, sich einzureden, „das halte ich schon aus“, „mir kann das nix anhaben“. Da muss man sich nichts vormachen.

Es ist ein schwieriger Prozess, manchmal ein langwieriger, aber ihn zu beschreiten und toxische Strukturen oder Menschen zu verlassen, ist immer heilsam und bewirkt, dass wir uns Neuem, Positivem, anderen Dingen zuwenden können – und aus der Erfahrung heraus sicher beim nächsten Mal etwas genauer hinsehen.

Es ließe sich hierüber noch so viel mehr schreiben oder sagen – hier zum Schluss aber noch so viel: Wer den Mut hat, neue Wege zu beschreiten, alte hinter sich zu lassen, der*die wird immer am Ende gewinnen.

 

Text: Tina Meffert
Foto: istockphoto.com

 

Informationen:

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) hat  auf ihrem Jahreskongress 2016 in Berlin einen Teilhabekompass vorgestellt. Dieser bietet einen Überblick über Angebote der beruflichen Rehabili­tation sowie regelfinanzierte Leistungsanbieter und Maßnahmen nach dem neunten Sozial­gesetzbuch. Die Broschüre richtet sich an Ärzt*innen und Therapeut*innen, die erwachsene Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen behandeln.