Suizid

Suizid ist kein Tabuthema mehr!

Suizid ist kein Tabuthema mehr!

 

von Stefan Lange

In der Suizidprävention tätige Organisationen und Verbände, Medien, Betroffene wie Nichtbetroffene und selbst ich: Stets wird das Thema Suizid mit dem Wort „Tabu“ versehen. Wenn über Suizid gesprochen oder geschrieben wird, dann ist oft vom „Tabuthema Suizid“ die Rede. Tabuthemen bleiben ein gesamtgesellschaftliches Tabu, weil wir bereits den Fehler bei der Formulierung begehen – und damit einer Entstigmatisierung entgegenwirken. Für mich ist damit ab sofort Schluss!

 

Suizid, das ewige Tabu …

Ein Tabu „schützt“ per Definition eine Gesellschaft vor dem offenen Diskurs. Das Tabu ist ein Synonym für Unausgesprochenes oder Unaussprechliches. Zugegeben, die Themen Tod, Trauer und Suizid gehören nicht zu den Dingen, über die wir gerne sprechen, weder aus Sicht der Betroffenen noch aus der Perspektive der Hinterbliebenen. Diese Worte sind behaftet mit Scham, Abneigung und diffusen Ängsten.

Die kollektiven Verdrängungsmechanismen beim Thema Suizid mögen historisch begründet sein. Bis in die 1960er Jahre hinein wurde Suizid beispielsweise in Großbritannien noch als Verbrechen geahndet und von jeher gilt im christlichen wie auch im jüdischen Glauben der Suizid als Sünde.

 

Wie passt ein Tabu in eine aufgeklärte Gesellschaft?

Wir leben in einer (vermeintlich) offenen Gesellschaft. Dank des Internets und sozialer Medien können wir unseren Hunger nach freier Informationsbeschaffung und dem Willen nach unzensierter Meinungsäußerung beinahe ungestört frönen.

Gern wird als Argument die Gesellschaft selbst bemüht, die für das kollektive Verhalten verantwortlich ist. Traditionen und Normen, über bestimmte Themen zu sprechen oder eben nicht zu sprechen, haben nicht nur eine nachhaltige Wirkung auf den öffentlichen Diskurs, sondern notwendige Veränderungen gehen dadurch langsamer vonstatten. Die Gesellschaft ist aber die Summe von Individuen und jeder Einzelne kann und muss eine Haltung beziehen. Hierbei braucht es eine klare Positionierung und ein Engagement, darüber offen zu sprechen. Ganz so einfach ist es manchmal jedoch nicht, denn wie über Themen gesprochen werden kann und darf, wird auch maßgeblich von Experten und Medien mitbestimmt.

 

Die zweifelhafte Rolle der Medien beim Thema Suizid

Die Medien haben sich eine selbstverpflichtende Beschränkung auferlegt, über das Thema Suizid zu berichten. Der Werther- oder Nachahmereffekt, der bei einer Berichterstattung über Selbsttötungen befürchtet wird, ist per se ein Totschlagargument, das eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über das Thema Suizid beschränkt. Erstaunlicherweise berichten Medien aber immer dann über ein selbstgewähltes Ableben, wenn es sich um eine prominente Person handelt. Dann kennen einige Journalisten kein Halten mehr, jegliche (Scham-) Grenze wird überschritten, was einzig dem Ziel dient, mehr Aufmerksamkeit oder Klicks zu generieren. Und das, obwohl eindeutig die Korrelation zwischen Prominenz und Nachahmungstaten wissenschaftlich belegt ist. Es gibt seit 1972 über 100 Studien, die den Werthereffekt wissenschaftlich belegt haben. Angefangen von Phillips (1972, USA) bis Niederkrotenthaler (Med. Uni Wien).

Es gibt leider zu wenig guten Journalismus beim Thema Suizid. Schafft es dann doch einmal eine Betroffene oder ein Betroffener ins mediale Rampenlicht, sei es Presse oder TV, so wird diese Person von Journalisten oft als Märtyrer stilisiert, denn endlich bricht Frau X oder Herr Y das Tabuthema Suizid. Selbstverständlich tut sie das im Einzelkämpfermodus, gewillt die Gesellschaft nun endlich von einer Geißel zu befreien. Ein „Tabu-Bruch“ klingt einfach zu reizvoll, um die gängigen Klischees unbeachtet zu lassen.

 

Wir müssen uns von der ausschließlichen Expertenebene befreien

Die Diskussion über Suizid, besonders das Wie, ist dominiert von Fach-Experten, die oft in einer emotional distanzierten Weise über das Thema referieren. Nicht nur, dass sie damit „gesunde“ Menschen kaum erreichen, es wirkt darüber hinaus umständlich, verkrampft und unempathisch. Die Selbstverpflichtung der Presse beruht letztlich auf wissenschaftlichen Erkenntnissen der Experten. Es sei angemerkt, dass die von ihnen gesetzten Normen bei der Berichterstattung über Suizid in einer Zeit lange vor der Erfindung des Internets und Social Media aufgestellt wurden.

Beim Thema Suizid wird es höchste Zeit, dass den Betroffenen mehr Gehör verschafft wird.

Sie verfügen über ausreichend Empathie und Erfahrung, angemessen darüber zu sprechen, ohne dass Nachahmungstaten befürchtet werden müssen. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, beispielsweise mit meinem Buch SUICIDE oder in der YouTube-Serie „Komm, lieber Tod“, wie befreiend es ist, offen und unzensiert über meinen Suizidversuch zu sprechen. Die Rückmeldungen der Zuschauer sind sehr positiv und geben mir Mut und Vertrauen, weiter in dieser Richtung tätig zu sein.

 

Den Betroffenen mehr Gehör verschaffen

Viele Betroffene wollen über ihre Erfahrungen sprechen. Dank der sozialen Medien werden die Stimmen derjenigen, die es betrifft, immer deutlicher. Psychische Krankheiten, wie etwa Depressionen oder PTBS, weisen eine gewisse Nähe zum Thema Suizid auf. Besonders lobenswert sind Initiativen, die diesen Menschen einen Raum geben, wie beispielsweise das Projekt Mutmachleute.

Hier zeigen Menschen ihr Gesicht und erzählen offen und unzensiert über ihre Krankheit und den Umgang damit. Berichte über Therapie-Erfahrungen und Auswege aus Krisen machen anderen Menschen Mut. Je mehr Menschen darüber sprechen, desto besser und nachhaltiger wirken wir an der Entmystifizierung und damit Enttabuisierung von psychischen Krankheiten mit – das Thema Suizid eingeschlossen.

 

Die Lösung kann ganz einfach sein

Suizid ist ein Thema, ein sehr wichtiges sogar, oft schwierig im Umgang und bisweilen unangenehm. Die mit Suizid verbundende Traurigkeit, Dramatik und Betroffenheit kann die heutige Gesellschaft aber aushalten. Sie muss nicht mehr mittels eines Tabus geschützt werden, sondern wir müssen noch mehr und offener darüber diskutieren.

Damit wir nicht weiterhin über das „Tabuthema“ Suizid sprechen, fordere ich Medienvertreter, Experten und jeden einzelnen von uns auf das Wort „Tabu“ einfach zu streichen.

 

Text: Stefan Lange

Beitragsbild: pexels.com

Stefan Lange hat neben seinem Buch SUICIDE bereits 61 Episoden auf YouTube veröffentlicht. Der Autor engagiert sich seit Jahren sehr aktiv in der Depressions- und Suizidprävention.

 

Stefan Lange
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