Nelia

Trichotillomanie: Ich will sehen, was passiert, wenn ich nicht aufgebe.

Betroffene: Nelia
Jahrgang: 1988
Diagnosen: Trichotillomanie, Zwangsstörung, rezidivierende depressive Episoden, Panikstörung
Therapien: Stationäre Aufenthalte, Tagesklinik, aktuell ambulante kognitive Verhaltenstherapie, medikamentöse Behandlung
Ressourcen: Kreatives Schreiben, Bloggen über meine Erkrankung, Malen und fotografieren, Zeit und Gespräche mit meinem Partner, meinen Freunden und meiner Familie, Yoga

 

Wie und wann hast du von deiner Störung erfahren?

Meine Zwangserkrankung begann, als ich ungefähr 14 Jahre alt war. Aus Scham und Unwissenheit darüber, was da mit mir überhaupt los ist, vertraute ich mich jedoch niemandem an. Nach und nach kamen dann auch erste Angstsymptome, die Trichotillomanie und depressive Verstimmungen hinzu, aber nie so ausgeprägt, dass ich nicht mehr im Alltag zurecht gekommen wäre. Der Einbruch kam erst, als ich 20 war, während meines ersten Semesters an der Uni. Ich hatte gerade Abi gemacht und bin zu Beginn meines Studiums aus meiner Heimat weggezogen in meine erste eigene Wohnung. Gegen Ende des ersten Semesters ging es mir schleichend immer schlechter, bis ich meinen Alltag irgendwann gar nicht mehr stemmen konnte. Die Depression hatte mich vollkommen lahmgelegt. Ich hatte aber das Glück, ein aufmerksames und hilfsbereites Umfeld zu haben, das mir zeitnah einen Termin bei einer Psychiaterin organisierte. Dort erhielt ich die Diagnosen Zwangsstörung und schwere depressive Episode. Die Panikstörung wurde dann 2017 als komorbide Erkrankung im Rahmen eines tagesklinischen Aufenthalts diagnostiziert.

 

Warum hast du dich entschieden, nun Gesicht zu zeigen?

In den letzten Jahren ist schon einiges in Bewegung gekommen in Sachen Aufklärung über psychische Erkrankungen und Entstigmatisierung. Das finde ich wunderbar! Trotzdem merke ich im Alltag oder durch Berichte von betroffenen Freunden und Mitpatienten auch, dass da noch Luft nach oben ist. Vorurteile wie die, dass Depressive nur „willensschwach“ seien oder Unwissenheit über psychische Erkrankungen existieren immer noch. Gerade Zwangsstörungen sind in der Öffentlichkeit noch eher wenig bekannt. Dabei sollen schätzungsweise circa 2-3 Prozent der Bevölkerung davon betroffen sein und der Leidensdruck kann sehr hoch sein.

Das alles kann dazu führen, dass Betroffene sich im Ernstfall schämen, Hilfe zu suchen. Darum finde ich es so wichtig, dass wir alle gemeinsam etwas gegen die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen tun und Aufklärung (weiterhin) stattfindet!

Außerdem macht es mir persönlich immer Mut, wenn andere Erkrankte von ihren Erfahrungen und überwundenen Problemen erzählen. Das hilft mir mehr, als wenn das Außenstehende oder Fachleute tun. Denn andere Erkrankte wissen genau, wovon sie reden. Vielleicht kann ich nun auf diese Weise etwas zurückgeben. Das fände ich schön.

 

Wie hat dein Umfeld reagiert, als es von deiner Krankheit erfahren hat, und welchen Umgang würdest du dir von deinem Umfeld in Bezug auf deine Störung wünschen?

Ich hatte das „Glück“, dass ich nicht die Erste mit psychischer Erkrankung in meiner Familie war. Von daher habe ich von familiärer Seite aus nach der Diagnosestellung Verständnis und Unterstützung bekommen. Trotzdem war es für meine Eltern anfangs wohl schon ein kleiner Schock. Ihre ruhige, immer unauffällige Tochter mit den guten Noten ist plötzlich zum Sorgenkind geworden. Probleme wegen meiner Erkrankungen hatten wir im Laufe der Jahre dann immer wieder mal. Ich glaube, meine Eltern hatten insgeheim gehofft, dass das mit der Depression eine einmalige Angelegenheit bleibt (ich übrigens auch ;-)). Nach der ersten kam dann aber irgendwann die zweite schwere depressive Episode, nach einigen symptomfreien Jahren die dritte … Auch die Zwangserkrankung bestand und besteht weiterhin. Dadurch zog sich mein Studium in die Länge; es gab Probleme mit der Finanzierung usw. Das war nicht leicht für alle Beteiligten und führte zu der ein oder anderen schmerzhaften Auseinandersetzung. Heute haben wir aber eine gute Ebene gefunden und ich fühle mich von meiner Familie unterstützt. Meine beste Freundin hat damals, wie heute großartig reagiert und war mir eine tolle Stütze. Auch von anderen Freunden habe ich viel Rückhalt bekommen.

Was ich mir heute von meinem Umfeld wünsche: Verständnis und Mitgefühl, wenn etwas mal krankheitsbedingt nicht so schnell klappt, wie gewünscht, aber kein Mitleid.

 

Welche Dinge haben Dir am meisten geholfen, die Krankheit zu akzeptieren?

Ich muss gestehen, ich habe lange gebraucht, um meine Krankheiten zu akzeptieren, vor allem, als sich abzeichnete, dass meine Zwangserkrankung chronifiziert ist und vielleicht mein Leben lang weiterbestehen wird.
Wer will mit Mitte, Ende 20 schon gerne hören, dass er chronisch krank ist? Gerade in den ersten Jahren nach den Diagnosen war ich oft deprimiert, fühlte mich verzweifelt, hilflos und immer wieder auch wütend, weil ich nicht gesund sein „durfte“.
Geholfen, meine Situation zu akzeptieren, hat mir vor allem folgende Einsicht:

Ich kann sehr viel Kraft und Lebensfreude opfern, mich darüber zu beklagen, dass ich krank bin und wie unfair ich das finde. Oder ich kann meine Lage akzeptieren und versuchen, das Beste daraus zu machen, mein Leben zu genießen und mit allem zu füllen, was ich sinnvoll finde.

Nur weil ich krank bin, ist mein Leben nicht vorbei! Ich kann trotzdem so vieles tun und erleben. Und ich habe wunderbare Menschen in meinem Leben und vieles Anderes, für das ich dankbar bin.
Wie gesagt, hat es aber lange gedauert, bis ich für mich zu dieser Erkenntnis kam. Verschiedene Menschen und Faktoren haben dazu beigetragen, viele Arzt- und Therapeutengespräche zum Beispiel, Diskussionen mit anderen Betroffenen und die Auseinandersetzung mit Achtsamkeit.

 

Welche Ressourcen nutzt du in Krisensituationen?

Im Laufe der Zeit habe ich für mich einen Krisenplan entwickelt, auf den ich in schwierigen Phasen versuche zurückzugreifen. Er beinhaltet verschiedene Stufen, je nachdem, wie ausgeprägt die Krise gerade ist. Eine feste Tagesstruktur, Bewegung an der frischen Luft und genug Auszeiten zum Erholen nach Anstrengungen gehören z.B. dazu. Auch der (virtuelle oder persönliche) Austausch mit anderen Betroffenen und Gespräche mit meinen Lieblingsmenschen helfen mir an schweren Tagen. Kreativ zu Sein ist mein ganz persönliches Ventil. Ich schreibe seit meiner Grundschulzeit gerne Gedichte und Geschichten. Darin kann ich meinen Emotionen, Träumen und Ängsten auch heute noch freien Lauf lassen und Dinge ausdrücken, über die es mir schwer fällt, zu reden. Malen und Fotografieren sind in den letzten Jahren in ähnlicher Funktion dazugekommen, und natürlich mein Blog.
Wenn sich eine Krise trotz all dessen nicht bessert, weiß ich, dass ich durch meine Therapeutin und meinem Arzt kompetente Ansprechpartner habe, die mir helfen, nach Lösungen zu suchen und den Mut nicht zu verlieren.

 

Was möchtest du anderen Betroffenen mit auf den Weg geben?

Ihr müsst euch nicht schämen dafür, dass ihr psychisch krank seid, und habt jedes Recht, Hilfe zu suchen und zu bekommen! Gebt nicht auf und glaubt an euch, auch, wenn es schwer fällt.

 

Was möchtest du anderen Angehörigen mit auf den Weg geben? Wie können sie dir (einerseits) und sich selbst (andererseits) am besten helfen?

Behandelt eure erkrankten Partner/Freunde/Angehörige bitte nicht wie einen anderen Menschen, wenn er gerade die Diagnose einer psychischen Erkrankung bekommen hat. Es kann sein, dass seine Persönlichkeit gerade von der Krankheit überschattet wird, aber darunter ist euer Angehöriger oder Freund immer noch der Mensch, den ihr kennt und liebt. Erklärt, dass ihr gerne für ihn/sie da seid.

Habt Verständnis dafür, dass Therapie harte Arbeit ist und Veränderungen mitunter Zeit brauchen.

Aber achtet bei alldem auch gut auf euch und grenzt euch ab, wo es nötig ist! Ihr habt ein Recht auf Zeit allein für euch und die Dinge, die euch gut tun. Die Krankheit darf nicht euer ganzes Leben bestimmen!

 

Was macht deinen Charakter aus und welche Eigenschaft schätzt du an dir am meisten?

Ich bin eine kaffeeliebende Leseratte, eine chaotische Möchtegerndichterin und eher introvertiert. Meine Familie und meine Freunde sind sehr wichtig für mich. Was ich an mir mag: Ich bin wissbegierig und lerne immer wieder gerne Neues dazu. Wenn mich etwas begeistert, kann ich völlig in einer Sache aufgehen. Meine Freunde sagen, ich bin eine gute Zuhörerin.

 

Nelia bloggt auf: Farbensehnsucht