Die Welt in meinen Augen (Teil 1): Bipolare Störungen
Menschen mit Erkrankungen aus dem bipolaren Spektrum – früher noch als „manisch-depressiv“ bezeichnet – werden nach wie vor stigmatisiert. Weltweit beträgt die Prävalenz bipolarer Störungen durchschnittlich 3% (1). Viele wissen nicht: Betroffene sind weit mehr als von „himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt“.
Im diesem Teil gibt Tina Meffert (Redaktion #Mutmachleute) einen persönlichen Einblick, wie es sich anfühlt und was es bedeutet, Betroffene(r) einer Bipolaren Störung zu sein. Im kommenden zweiten Teil lassen wir den Schriftsteller Peter Mannsdorff im Interview zu Wort kommen.
Stigma Bipolar: „Entweder durchgeknallt oder am Abgrund“
„Jeder hat doch mal gute oder schlechte Tage.“, „Winterblues hab ich auch.“ Dies sind oft gehörte Phrasen, mit denen Betroffene konfrontiert werden. Damit geraten sie unter einen quälenden Erklärungs- oder Rechtfertigungsdruck in ihrem Umfeld. Ich habe mich bei Betroffenen umgehört und nachgefragt, welche Erfahrungen sie im Alltag gemacht haben. Dabei stellte sich heraus, dass bei vielen Personen aus dem beruflichen und privaten Umfeld der Betroffenen, aber auch seitens der Behörden, entweder mangelndes Wissen und wenig Empathie, und beinahe noch schlimmer, Desinteresse herrschen. Im schlimmsten Fall aber spricht man ihnen das Urteilsvermögen ab.
Die bipolare Erkrankung gilt als eine schwerwiegende affektive Störung (d.h. auf die Emotionen und deren Regulierung bezogen). Oft wird sie nicht rechtzeitig oder fehldiagnostiziert, da Betroffene während der euthymen (normalen) oder hypomanen Phasen nicht auffällig sind. Kommen sie in einer depressiven Phase in Behandlung, wird oft zunächst eine unipolare Depression festgestellt und entsprechend medikamentös behandelt. Bei den bipolaren Störungen kann dies verheerende Auswirkungen haben, denn antidepressive Medikamente bewirken nicht selten einen sogenannten Swift – und der Betroffene gerät geradewegs in eine manische Phase – die unangenehme Konsequenzen mit sich bringen kann. Als wichtigste Medikation sei hier die sogenannten Phasenprophylaxe für die Langzeitbehandlung zu nennen, wobei kurzfristig und kontrolliert Antipsychotika sowie Antidepressiva gegeben werden, bis eine Stabilität erreicht ist.
Auch hier gilt: Es kann jeden treffen!
Bipolare Erkrankungen können jeden Menschen betreffen. Sie beginnen überwiegend im frühen Erwachsenenalter, aber auch im späteren Leben können sie durch eine Lebenskrise oder Umbruchsituation ausgelöst werden.
Die Entstehung bipolarer Störungen steht u.a. mit einer anlagebedingten Verletzlichkeit des Nervensystems in Verbindung. Neben dieser Verletzlichkeit und individuellen Bereitschaft, mit Stressfaktoren umzugehen, gibt es viele weitere äußere Faktoren, und somit lebensgeschichtliche Ereignisse und Prägungen sowie Dispositionen, die zu einer bipolaren Störung führen können. Die Reaktionen der betroffenen Menschen in Form von Depressionen und Manien – wobei beide Phasen eine grundlegende Gemeinsamkeit haben – sind als Kompensationsstrategien zu verstehen, oder auch als Überlebensgarantien. Manische Phasen sind im Grunde genommen die Flucht nach vorne, ein Ausbrechen aus der Depression oder einem unerträglichen gemischten Zustand.
Wer könnte von sich behaupten – bei aller individueller Resilienz und weiteren schützenden Faktoren – nicht selbst einmal in eine Phase zu geraten, die sich doch vehement vom üblichen eigenen Stimmungsbereich unterscheidet?
Aus persönlicher Sicht
Insbesondere mein frühes Erwachsenenleben war gekennzeichnet von heftigen Stimmungsschwankungen, die enorme Auswirkungen auf meinen weiteren Werdegang hatten. Weder privat noch beruflich blieben ich oder mein Handeln konsequent und verlässlich. Wie auch, wenn sich Phasen der übertrieben gesteigerten Aktivität und euphorischer Ausbrüche abwechselten mit Zeiten, in denen ich das Bett kaum verlassen konnte. Um zwischendurch ein vermeintlich normales Leben auf der Bühne des Alltags zu führen.
Heute weiß ich, dass in meinem Fall Faktoren der persönlichen Biografie, Persönlichkeitseigenschaften, Traumatisierungen, ein Hang zur Non-Konformität, aber mit Sicherheit auch die eigene Vulnerabilität zum Entstehen der Erkrankung im frühen Erwachsenenalter beigetragen haben.
Ich persönlich habe für mich erkannt, dass meine Manien und auch die weniger heftigen Vorstufen der Hypomanie Ausdruck verletzter oder nicht gelebter Bedürfnisse waren, ebenso wie die depressiven Zeiten Ausdruck von Erschöpfung und durch die Gefühllosigkeit auch letztlich einen Selbstschutz darstellten.
In meinem Fall waren mehrere Grundbedürfnisse verletzt: Zugehörigkeit und Bindung, Autonomie und Kontrolle. In den Manien habe ich Dinge getan und Gefühle gehabt, die verboten und tabuisiert waren. Sie haben mir aber gezeigt, zu welchen Kräften, „Leistungen“ und zu welch Kreativität ich Zugang habe. Zustände also, die ich im normalen (euthymen) oder depressiven Stimmungsbereich nie erreichen würde. Manien sind immer Ausdruck gewesen von Wünschen oder Verletzungen, aber auch Ausbrüchen aus depressiven Phasen, die ich nicht mehr anders kompensieren konnte. Eine hypomane Phase, in meinem Fall als hochfunktional bipolare oftmals von außen unerkannt, ist ein angenehmer Zustand von Leistungsfähigkeit, Kreativität, Stressresilienz, gehobener Stimmung, überdurchschnittlicher Wahrnehmung äußerer Reize, Kontaktfreudigkeit und vielen anderen angenehmen Stimmungen und Möglichkeiten.
Die Abstürze allerdings waren umso gewaltiger, je ausgeprägter die vorherigen Hochs waren. Die Depression oder depressive Phase kann dann so tief werden und sich langfristiger manifestieren, dass subjektiv kein Herauskommen mehr möglich scheint.
Die große Herausforderung für einen bipolaren Menschen ist, von der Hypomanie zumindest nicht in die Manie oder nach der Hypomanie niecht in eine (Erschöpfungs-)Depression zu geraten. Vielmehr noch: eine Mitte zu finden und nicht mehr zwischen den Extremen zu pendeln.
Heutzutage schätze ich Eigenschaften an mir, die ich als „Normal-Gesunder“ nicht hätte: kreative Begabung, hohe Leistungsbereitschaft, ein hohes Maß an Empathie und sozialer/emotionaler Intelligenz, untrügliche Instinkte im Umgang mit Menschen, phasenweise intellektuelle Höchstleistungen.
Ohne meine (später diagnostizierte) Bipolarität hätte ich mit Sicherheit ein anderes Leben gelebt als bis hierher – aber mit keinem anderen möchte ich tauschen.
Sie gehört zu mir, und ich kann die Erkrankung meistens handeln, auch mit Unterstützung von Medikamenten, die mich stabilisieren, neben den Psychotherapien. Ich bin weder gefährlich für andere noch für mich (inzwischen; eine gewisse Selbstgefährdung war in den früheren Jahren durchaus gegeben).
Manchmal kann es sicher anstrengend mit mir sein, wenn ich viel und schnell rede, zu schnell denke für mein Umfeld, Assoziationen und Wahrnehmungen habe, denen andere nicht folgen können. Dann bin ich auch sprunghaft, unberechenbar und euphorisch, fange tausend Dinge gleichzeitig an. Ich bin aber auch witzig und schlagfertig, ein intellektueller Überflieger, ich mutiere zur Partybombe und bin unfassbar kreativ in dem, was ich tue. Und ich kann ebenso anstrengend sein, wenn es kippt – ich bin ausgelaugt und energielos; man merkt mir die Anstrengung an, die es mich kostet, mich für die einfachsten alltäglichen Dinge zu überwinden. Oft bin ich gereizt, „nah am Wasser“ oder schlimmstenfalls teilnahmslos und apathisch. Dann erfasst mich die endlose, bodenlose Leere.
Nichtsdestotrotz: anderen wird es mit mir nicht langweilig, im Gegenteil. Und das finde ich eigentlich auch ganz gut.
Ich habe daran gearbeitet, dass es nicht mehr zu den äußersten Spitzen kommt, die die bipolare Störung auszeichnet.
Dafür bin ich dankbar – und ich bin dankbar für die Akzeptanz seitens meiner Familie und meines (engen) Freundeskreises, sowie meines Arbeitsumfeldes. Mein „inner circle“, in dem ich mich sehr gerne bewege, gibt mir die Sicherheit und Stabilität, die ich manchmal in mir nicht habe. An dieser Stelle: DANKE EUCH ALLEN.
Text: Tina Meffert
Foto: pexels.com
Quellen: (1) Lifetime and 12-Month Prevalence of Bipolar Spectrum Disorder in the National Comorbidity Survey Replication. In: Arch Gen Psychiatry. 2007 May; 64(5): 543–552.