Die Welt in meinen Augen Psychosen

Die Welt in meinen Augen: Psychosen.

Mit der Reihe „Die Welt in meinen Augen“ wollen die #Mutmachleute Vorurteilen gegenüber einzelnen psychischen Erkrankungen seitens der Öffentlichkeit entgegenwirken, denn aus Unkenntnis resultieren Berührungsängste und Stigmata.

Zu den psychischen Krankheiten, die sehr oft mit einem Stigma belegt werden, gehören unter anderem die Psychosen. Allein in der Bundesrepublik Deutschland haben Schätzungen zufolge über eine Million Menschen die Erfahrung gemacht, was es bedeutet, Stimmen zu hören oder in Phasen von „himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt“ den Alltag zu erleben.

Wir möchten, dass Betroffene von Schizophrenien, schizotypen und wahnhaften Störungen in einer Welt leben können, die sie akzeptiert als das, was sie sind: Menschen mit episodenhaftem anderen Erleben – und Begabungen. Die #Mutmachleute bitten Betroffene, ihren Alltag zu schildern. Nach einem Einleitungsteil zum Thema Psychosen wollen wir hier Verena zu Wort kommen lassen.

 

Sieh die Welt durch meine Augen: Psychosen

 

Stigma Psychose: „Über Wahn(sinn) spricht man nicht!“

Für viele Betroffene (und auch das soziale Umfeld) ist die Kommunikation über Psychoseinhalte tabuisiert: „Über Wahn(sinn) spricht man nicht!“. Sie erleben u.a. Schamgefühle, die das Schweigen nur weiter fördern – und ablehnende Reaktionen im Umfeld. Dabei ist eine offene Kommunikation nicht nur verständnisfördernd im persönlichen Umfeld – auch für zukünftige Krisen –, sondern vor allem heilsam für alle Beteiligten. Tabuisierung von und Schweigen über heikle Themen schafft ganz allgemein nur mehr Stress und psychische Belastung. Viele Betroffene machen leider immer noch negative Erfahrungen, sowohl im klinischen System als auch in der Öffentlichkeit. Sie haben Angst vor Stigmatisierung, erhöhter Medikation, zu früher Einweisung oder gar Entmündigung, etc. Ein weit verbreiteter Erklärungsansatz für Psychosen ist die These, dass Psychosen alleinig als endogen zu betrachten sind – also in der Biochemie des Stoffwechsels begründet liegen. Es gibt keine monokausalen, allgemeingültigen Erklärungen für die Entstehung von Psychosen: Sie sind interkulturell als menschliches Repertoire zu verstehen, Krisen zu bewältigen.

 

Psychotisches Erleben ist allzu menschlich und höchst individuell: Es kann jeden betreffen!

  • Psychotisches Erleben ist in jedem Menschen angelegt. Die Verletzlichkeit und individuelle Resilienz spielen hierbei eine große Rolle, doch niemand ist vor einer Psychose gefeit. Die „Macht“ des Unterbewusstseins kann jeder aus seinen Träumen nachvollziehen. Manche Menschen sind „dünnhäutiger“, andere „dickfelliger“. Die autobiografische, individuelle Geschichte spielt eine große Rolle, wie mit Stressoren und Krisen umgegangen werden kann und welche Ressourcen genutzt werden.
  • Jede Psychose ist einzigartig und nicht einfach nur als Krankheit zu betrachten. So unterschiedlich Menschen sind, so unterschiedliche Geschichten „erzählen“ die Psychosen. Der Mensch muss mit seiner Geschichte im Vordergrund stehen, und nicht nur die Symptomatik.
  • Für alle Menschen gibt es kritische Phasen in seinem Leben. Dies sind Phasen, in dem Neuorientierungen im beruflichen oder privaten Leben gefordert sind (Geburt, Tod, Verluste, Trennungen, Eintritt ins Berufsleben oder Kündigungen u.v.m.). Sie können eine tiefe Verunsicherung mit sich bringen und existentiell bedrohlich werden und spiegeln das menschliche Bedürfnis, diese Krisen möglichst unbeschadet zu bewältigen.
  • Die endogene, schulmedizinische Sichtweise sollte sich einer multifaktoriellen öffnen: Vererbung kann nur ein Faktor von vielen sein, aus o.g. Gründen.

 

Aus Erfahrung: Genesungsbegleiterin Verena

 

Zutreffender kann man es nicht formulieren als Autorin und Mutmacherin Verena Himmelblau. So schreibt sie in ihrem Buch „Die Welt in meinen Augen“:

„Mit meiner Geschichte möchte ich zeigen, dass Menschen mit Psychose-Erfahrungen auch ganz besondere Schätze an Talenten, Fähigkeiten und Wissen in die jetzige Zeit einbringen können und dass man auch als „diagnostizierte Verrückte“ viel Schönes in die Welt bringen kann. Vor allem möchte ich anderen Menschen Mut machen, zu sich selbst zu stehen, nicht aufzugeben und weiterzugehen, egal, wie schlimm es aussehen und wie schwer es einen erwischt haben mag. (…) Die stärksten Seelen gehen oft durch die härtesten Prüfungen!“

 

Wir fragen Verena.

 

Beschreibe uns einen typischen Tag in deinem Leben, an dem du mit deinen Symptomen zu kämpfen hattest. Beschreibe bitte dabei, was du erlebt und gefühlt hast. Was hat dazu beigetragen, dass dieser Tag kein guter war? Was hat oder hätte dir geholfen, diesen Tag besser zu überstehen? Lass uns einen solchen Tag durch deine Augen sehen!

Einen „typischen“ Tag gibt es bei mir in einer Psychose nicht. Ich lebe dann nur noch von Moment zu Moment. In einer Psychose fühle ich mich immer wie Alice im Wunderland und es ist mehr ein Eintauchen in eine andere Realität als das Kämpfen mit Symptomen.
Da ich bisher damit immer (8x) in der Psychiatrie gelandet bin, kann ich einen Tag nur so beschreiben, dass er für mich immer schwer auszuhalten war – das Eingesperrt-sein, nicht verstehen, was da mit mir passiert, Medikamente nehmen müssen und womöglich fixiert werden. Es ist mehr der Kampf damit, aus dem Psychiatrie-Spiel wieder ungebrochen herauszukommen als die Symptome. Ja, ich kenne Wahn und Verrücktheit, doch wie Menschen in diesem anderen Zustand behandelt werden, ist das eigentlich Kranke in meinen Augen. Was mir geholfen hätte, wäre eindeutig ein/e Genesungsbegleiter/in an meiner Seite gewesen. Einmal hatte ich das Glück, dass mir jemand für einen Spaziergang zur Seite gestellt wurde. Und das hat mein ganzes Leben danach beeinflusst: ich habe dann selbst die Ausbildung zur Genesungsbegleiterin gemacht, um Menschen in dieser Situation beistehen zu können.

 

Beschreibe uns einen typischen Tag in deinem Leben, den du genießen kannst, an dem du zufrieden bist. Beschreibe bitte dabei, was du erlebt und gefühlt hast. Was hat diesen Tag zu einem guten gemacht? Wer oder was hat dazu beigetragen?

Inzwischen habe ich viele gute Tage. Sie beginnen meistens morgens ganz in Ruhe mit ein bisschen Körperübungen, einer kleinen Meditation und fast immer gehe ich auch noch eine Runde spazieren. Dann treffe ich mich mit Freunden oder nehme Termine wahr, wurschtle in meinem kleinen Büro oder koche was Leckeres für mich und meinen Mann. Mir tut es gut, momentan nicht in starrer Struktur funktionieren zu müssen – derzeit beziehe ich eine volle EU-Rente. Daher ist auch hier kein Tag „typisch“, sondern jeder Tag ein bisschen anders als der vorherige. Ich bin glücklich und froh, dass es mir gerade gut geht, kann mein Leben auf allen Ebenen genießen. Meistens fühle ich mich wohl und angekommen in meinem Leben und dass ich fast 19 Jahre in einer Bank gearbeitet habe, lässt sich heute nur noch erahnen. Den wichtigsten Beitrag zu meiner momentanen Stabilität leistet auf jeden Fall mein Mann – ich weiß nicht, wo ich heute ohne ihn wäre. Das ist ein großes Geschenk für mich, dass er in mein Leben gekommen ist.

 

Seltenere psychische Störungen wie Psychosen rufen in der Gesellschaft immer noch Vorurteile hervor, die sich auch in der Sprache zeigen. (Zeitweise) betroffene Menschen werden dann als „verrückt“ bezeichnet. Wie kannst du – aus eigener Erfahrung oder jenen deines persönlichen Umfeldes – diesen Vorurteilen entgegenwirken?

Ich habe immer zu meiner Geschichte gestanden, denn mich damit zu verstecken, bringt überhaupt nichts außer Gerede hinter meinem Rücken. So hat mir persönlich sehr geholfen, möglichst offen mit der Erkrankung umzugehen. Das hat Tratsch und Gerüchte sofort ausgeschaltet. Dadurch kam es bei mir glücklicherweise nie dazu, dass ich mit Vorurteilen kämpfen musste. Ich fühlte mich auch im Beruf immer wertgeschätzt und akzeptiert. Auch wenn ich natürlich weiß, dass das keine Selbstverständlichkeit ist und ich auch Menschen kenne, denen es da ganz anders geht. Es ist halt die Erfahrung, die ich selbst gemacht habe. Allerdings muss ich dazu sagen, dass durch die Erkrankung schon einige Freundschaften auf der Strecke geblieben sind, was mir sehr leid tut.
Außerdem habe ich ein Buch geschrieben: „Die Welt mit meinen Augen“, in dem ich meine eigene Geschichte verarbeitet habe. Es beschreibt mein Erleben in den Psychosen und lässt den Leser an dieser veränderten Realität hautnah dabei sein. Das hat schon vielen Menschen Mut gemacht und auch sehr berührt. Da ist dann kein Raum für Vorwürfe und Vorurteile übrig.

 

In ihrem Buch beschreibt Verena ehrlich und authentisch ihre acht Episoden, umrahmt von lebensgeschichtlichen Ereignissen mit ausgesprochen positiven Ausblicken. Sie bewegte sich zwischen einem Leben in der „normalen“, angepassten Welt als Bankangestellte und Phasen von „verrückter“ Realität – und bricht das Schweigen über psychotisches Erleben. Als Leserin ihrer Geschichte habe ich die geschilderten Episoden hautnah miterlebt, ihr Denken und Handeln in jedem Moment als verständlich wahrgenommen.

Was die Autorin aber darüber hinaus schafft: Immer darf der/die LeserIn schmunzeln, entwickelt sich die Geschichte im Verlauf zu filmreichen Szenerien – man darf diese Dinge auch einfach mal humorvoll betrachten. Nicht alles ist immer von trauriger Ernsthaftigkeit und nicht nachzuvollziehendem „Wahnsinn“ gefärbt. Natürlich gibt sie auch Einblicke in Situationen, in denen es an Selbstgefährdung nicht mangelte; immer aber gab es letztlich Menschen oder Orte, die sie auffingen. Dazu trägt ihre Selbstreflexion unbedingt bei, die eine Brücke schlägt zu jenen Lesern, die nicht von psychotischem Erleben betroffen sind oder waren.

 

Ein Plädoyer für eine menschlichere, soziale Psychiatrie

„In meiner Vision werden die Menschen in ihrem Prozess der seelischen Transformation (und nichts anderes ist eine psychische Erkrankung) intensiv begleitet. (…) Die Psychiatrie braucht Öffnung nach außen, (..) und kein Mensch wird mehr fixiert oder weggesperrt. Es gibt Raum für Gefühle und Gedanken, Raum für Stille und Rückzug, Raum für Kreativität und Begegnung, Klang und Farben (…). Der Patient wird wieder als das gesehen, was er eigentlich ist: eine Seele in einem menschlichen Körper, die auf der Erdebene Erfahrungen macht. Und daher nicht besser oder schlechter ist als ein „gesunder“ Mensch.“

 

Die Psychiatrie muss sich öffnen für ein menschenfreundliches Behandlungskonzept

Psychoseerfahrene Menschen haben neben aller Individualität des Krankheitsverlaufs eine Gemeinsamkeit: Die Episoden sind nicht von Dauerhaftigkeit geprägt. Sehr oft fällt es den Betroffenen schwer, aus der – meist als Krise erlebten – Phase von selbst wieder herauszukommen. Zwar hat die Psychiatrie allgemein in den vergangenen Jahrzehnten Bemühungen gezeigt und wurde so zu einer moderateren, offenen und menschenfreundlicheren Einrichtung; oft genug aber werden von den Betroffenen diese Bemühungen nicht erlebt, dienen stationäre Aufenthalte leider immer noch der Verwahrung, dem Wegschließen von Personen und einer Versorgung, die in kritischen Situationen zu sehr auf Medikation, Fixierungen und andere freiheitsberaubende Maßnahmen setzt.

 

Recovery für psychoseerfahrene Menschen

Dabei gibt es hier durchaus mutmachende Aspekte und Ausblicke, sowohl für Betroffene als auch Angehörige, mit positiven Lösungs- und Bewältigungsstrategien. Wichtig hierbei ist es, neben einer mit dem Betroffenen entwickelten Medikation, die manchmal unumgänglich ist,

  • Selbsthilfegruppen zu besuchen,
  • (psycho)therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen,
  • Frühwarnsysteme mittels der Psychoedukation zu nutzen und daraus ein eigenes Ressourcenmanagement zu entwickeln,
  • Vorsorgemaßnahmen und Absprachen mit dem Umfeld zu treffen,
  • vor allem aber Psychosen als Lösungsversuch besonders belastender Ereignisse und den Widersprüchen zwischen dem Außen und dem Innen anzuerkennen.

Denn: Psychosen bzw. psychotisches Erleben und Handeln haben immer einen Grund – sie dienen der Kompensation unterdrückter Emotionen, nicht verarbeiteter lebensgeschichtlicher Konflikte und Erlebnisse.

Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell dient sehr gut als Erklärung, warum manche Menschen besser bzw. resilienter auf Stressoren reagieren, während andere „dünnhäutig“ Verletzungen und Stress verarbeiten und an einem bestimmten Punkt „das Fass zum Überlaufen“ gerät – und den Menschen in eine psychotische Episode bringen können. Dieses Wissen vorausgesetzt, können Betroffene Schutzstrategien und Krisenbewältigungspläne entwickeln, um in akuten Situationen möglichst frühzeitig reagieren zu können. So können viele Betroffene ihre Erkrankung „in den Griff“ bekommen und gehen in besonders kreativem Maße mit ihr um: sie können sehr wohl ihren Alltag meistern, Freundschaften und soziale Kontakte pflegen und ein glückliches, selbstbestimmtes Leben führen.

 

Selbsthilfe bei psychotischen Krisen: Bevor die Stimmen wiederkommen

Ein empfehlenswerter Ratgeber ist das Buch „Bevor die Stimmen wiederkommen“ von Andreas Knuf und Anke Gartelmann. Die Diplom-Psychologen haben mithilfe der Erfahrungen von vielen Betroffenen als auch deren Angehörigen ein umfassendes, klar strukturiertes Buch zusammengestellt.

Betroffene berichten auf vielfältige Weise von ihren psychotischen Episoden, was ihnen in dieser und der Folgezeit am meisten geholfen hat, und so individuell die Geschichten sind, so individuell sind auch ihre Lösungsansätze und Perspektiven für kommende Zeiten. So bieten die Schilderungen der Betroffenen Ausblicke und einen großen Pool von Vorsorge- und Lösungsmöglichkeiten, welchen Sinn die Betroffenen rückblickend in ihren Psychosen erkannt haben. Die Geschichten sind sehr persönlich und individuell; doch aus jedem einzelnen Bericht ergeben sich Optionen, neue Perspektiven, die vielleicht auf die eigene Situation in Zukunft anwendbar wären.

Die Lektüre des Buches bietet weiterhin viele praktische Tipps, so beispielsweise:
• Mit (außergewöhnlichen) Belastungen sowie dauerhaften Anforderungen angemessen umgehen
• Mit kritischer Haltung und negativen Reaktionen umgehen
• Frühwarnzeichen erkennen, Absprachen mit Angehörigen, Grenzen erkennen (wann begibt man sich in einen geschützten Raum)
• Alternative Behandlungskonzepte und Krisenintervention
• Erarbeitung eines persönlichen Vorsorgebogens u.v.m.

 

Text: Tina Meffert
Foto oben: pexels.com

Literaturangaben: (1) Verena Himmelblau: Die Welt mit meinen Augen. 2. Auflage 2018, www.verena-himmelblau.de
(2) Andreas Knuf, Anke Gartelmann (Hg.): Bevor die Stimmen wiederkommen. Vorsorge und Selbsthilfe bei psychotischen Krisen. 9., korr. Auflage 2014, Balance Buch + medienverlag Köln 2014

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