Am Beispiel der bipolaren Erkrankungen: Das Positive sehen ist nicht schwer.

 

Psychische Erkrankungen mit psychotischen Episoden sind im Kern immer noch höchst stigmatisiert und mit Vorurteilen behaftet.

Mir fällt kaum eine weitere psychische Erkrankung ein, die noch immer derartig stigmatisiert wird, wie jene aus dem Kreis der bipolar affektiven Störungen. Im ICD-10, einem Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen, werden die bipolar affektiven Störungen anhand unterschiedlicher Phasen unterteilt. Alle aber sind gekennzeichnet von einem Wechsel von Episoden der gehobenen Stimmung mit vermehrter Aktivität (Hypomanie oder Manie) mit Episoden der Stimmungssenkung mit reduziertem Antrieb (Depression).

Früher nannte man die Erkrankten manisch-depressiv, eine Bezeichnung, die der Volksmund heute noch hartnäckig beibehalten hat. Ich habe sogar noch die Bezeichnung „manisch-depressives Irresein“ in der älteren Literatur entdeckt. Diese Bezeichnung weist schon in der Benennung ein höchst stigmatisierendes Moment auf.

Insbesondere Betroffene von Erkrankungen mit psychotischen Anteilen oder Episoden (wie bspw. Betroffene der Schizophrenie und bipolarer Erkrankungen) werden immer noch mit Vorurteilen konfrontiert, die zum Teil menschenverachtend und herabwürdigend sind. Gängig sind leider immer noch Vorurteile, Betroffene seien eine „Gefahr für die Öffentlichkeit“, „debil“ oder „unfähig, am gesellschaftlichem Leben teilzunehmen“.

 

Die Stigmatisierung ist ein unreflektierter, unreifer und gefährlicher sozialer Definitionsprozess.

Stereotype, Vorurteile und diskriminierendes Verhalten geben sich hier die Hand und führen sowohl in der Gesellschaft als auch beim Individuum zu einer sehr leichten, einfachen und dafür umso gefährlicheren Entlastungsfunktion: (Vermeintlich) negative Merkmale werden bestimmten Personengruppen zugeschrieben und dienen der eigenen sozialen Identität. Sie „stabilisieren“ die innergemeinschaftliche Position innerhalb der Gesellschaft oder im eigenen Mikrokosmos. Unwissen, Fehlinformationen und die (bewusste oder unbewusste) selektive Rezeption von Informationen schüren weiterhin solche stereotypischen Beurteilungsmuster. Die außerordentliche Gefährlichkeit solcher unreflektierter Prozesse muss ich an dieser Stelle, eben auch in Bezug auf politische Teilhabe, nicht erwähnen.

Wir von den Mutmachleuten möchten, dass die Gesellschaft sich nicht nur damit auseinandersetzt, warum psychische Erkrankungen stigmatisiert werden und warum es psychisch kranken Menschen oftmals so schwer gemacht wird, vollständig integriert zu sein.

Wir möchten auch, dass eine breite Öffentlichkeit von den positiven Eigenschaften psychisch erkrankter Menschen erfährt. Natürlich ist eine bipolare Störung eine schwerwiegende und bleibende psychische Erkrankung mit ernsten Folgen für die Menschen und ihre Angehörigen, die unbedingt erfahrene Ärzte und ein therapeutisches Umfeld braucht.

Bipolar zu sein, bedeutet aber nicht nur Negatives – sondern mindestens genau soviel Positives!

In einer Studie zu positiven Aspekten bipolarer Störungen am Lancaster Spectrum Centre (2012) konzentrierten sich Forscher auf die subjektiv geschilderten Vorteile der Störung bei den Teilnehmern. Eine Mehrheit der Befragten gab an, dass sie, sollten sie die Wahl haben, nicht auf ihre Erkrankung verzichten wollten. Während einer Manie befinden sich der Antrieb, die Stimmung und Aktivität weit über dem Normalniveau. Dies bezieht sich neben dem körperlichen Aspekt eben auch auf die kreativen und kognitiven Schaffensbereiche und Denkprozesse. Als Stichworte seien hier folgende genannt: eine erhöhte Produktivität und bisweilen unermessliche Kreativität in allen Schaffensbereichen; eine hohe Fokussierung und Klarheit der Gedanken; eine verschärfte Sinneswahrnehmung über alle Sinneskanäle hinweg; eine unbändige, fast kindliche (hier ist gemeint: unzensierte, echte und aufmerksamkeitszentrierte) Freude an der Teilhabe vermeintlich banaler Schaffensprozesse; eine leidenschaftliche Fokussierung auf Dinge, die Spaß machen; extreme Witzigkeit und Schlagfertigkeit; ein kaum zu bändigender Reichtum innerer Erfahrungen u.v.m.

Wir möchten alle dazu aufrufen, dem eigenen inneren Anteil wechselhafter Episoden zu begegnen und Menschen mit bipolarer Störung als wichtige, impulsgebende und höchst kreative Mitglieder unserer Gesellschaft zu betrachten!

Wer sich ein wenig näher mit dem Erscheinungsbild des bipolar geprägten Erlebens, Fühlens und Verhaltens beschäftigt und nebenbei höchst intelligente und auch unterhaltsame Lektüre genießen möchte, dem empfehle ich u.a. Thomas Melles „Die Welt im Rücken“. Der Autor, selbst an einer bipolaren Störung erkrankt, gibt dem Leser außergewöhnliche Einblicke in seine erlebten Katastrophen, zeigt aber auch die Besserungen und positiven Seiten seiner Erkrankung auf.

Text: Tina Meffert
Foto: pexels.com